VON NORBERT FISCHER
Marschland ist von Menschen gemacht. Es liegt an der Nordseeküste und den dort mündenden Strömen – flaches, tiefgelegenes Land, das vom Meer genommen wurde. Ich mag seine Weite, den Blick bis zum Horizont, das satte Grün, den häufig aus Nordwest wehenden Wind mit den treibenden Wolken. Ich sehe Weiden und Koppeln, grasende Rinder und Pferde, Äcker mit Feldfrüchten und Obstbaumwiesen. Das Schilf und die Weidenbüsche an den Ufern der Wasserläufe sind Heimat für Flora und Fauna, Gänse grasen auf den Grünflächen und Watvögel stelzen im Schlick, am Himmel kreisen jagende Greifvögel.
Die Marsch ist eine fruchtbare Gegend. Ursprünglich handelte es sich um einen amphibischen, von den ein- und ausströmenden Gezeiten mit ihren Prielen geformten Raum. Das nährstoffreiche Meerwasser düngte den niedrig gelegenen Boden auf natürliche Weise und machte ihn höchst fruchtbar. Aber die Grenzen zwischen Wasser und Land blieben fließend: wann war was Land oder Wasser?
Die zunächst wenigen Menschen lebten an der Grenze zur Wildnis des Wattenmeeres. Künstlich aufgeschüttete Erdhügel dienten als Siedlungsplätze: sogenannte Warften oder Wurten, die sich inselartig aus dem amphibischen Raum hervorhoben. Manche von ihnen sind bis heute im Landschaftsbild erhalten geblieben und werden noch als überschwemmungssichere Wohnplätze genutzt.
Im Mittelalter kamen findige Küstenbewohner auf die Idee, Wälle um die Warften zu ziehen, um ihre Siedlungs- und Nutzflächen zu erweitern: das waren die ersten, noch recht niedrigen Deiche. Bald schloss man sich in gemeinschaftlicher Arbeit zusammen und deichte größere Gebiete ein, die regional unterschiedlich Polder, Koog oder Groden genannt wurden, bevor es die ersten geschlossenen Deichlinien gegenüber dem Meer und den gezeitenabhängigen Strömen gab. Nun markierte der Deich eine klare Grenze zwischen Land und Wasser. Der binnenseits gelegene fruchtbare Boden blieb in der Regel von den Gezeiten unberührt und konnte landwirtschaftlich genutzt werden.
Warft und Deich: zwei völlig unterschiedliche Formen des Umgangs mit dem Wasser: die Warft begegnet den Fluten in »weicher« Form allein durch ihre Höhe, der Deich hingegen zieht eine klare Grenze zwischen Land und Wasser. Mit ihr hatten sich die Marschenbewohner eine neue Landschaft und eine neue Heimat geschaffen. Bis heute bestimmt der Deichbau, wo und wie im Marschland gelebt und gearbeitet werden kann. Durch Vor- und Rückdeichungen, durch Haupt- und Flankendeiche ist über Jahrhunderte eine vielfach strukturierte, gut sichtbare Kulturlandschaft entstanden.

In der Marsch © Norbert Fischer
Nur auf den ersten Blick ist Marschland flach und unscheinbar, bei näherem Hinsehen steckt es voller Geheimnisse. Das größte Mysterium ist das Fließen des Wassers. Manchmal steht es still, dann wieder fließt es Richtung Meer, oder es kommt als Sturmflut vom Meer und will sich altes Terrain zurückholen. Die gezeitengeprägten Flussläufe graben sich immer wieder neue Betten. Wasser in der Marsch zu beobachten, ist viele Erzählungen wert – es ist »romantisch« im alten Sinne des Wortes, also romanhaft. »Wasserland« – so nannte der britische Romancier Graham Swift sein Werk über das an der ostenglischen Küste gelegene Marschland der Fens.
In der Marsch kommt das Wasser von beiden Seiten, von buten und binnen. Zwar konnten die vom Meer einbrechenden Fluten durch die Deiche abgehalten werden. Umgekehrt aber war dadurch dem Binnenwasser der Abfluss nach außen versperrt. Marschland liegt sehr niedrig: manchmal ein, zwei oder mehr Meter unter dem Meeresspiegel, manchmal knapp darüber. Also schuf man im eingedeichten Land schnurgerade schmale Gräben (meist Flethe oder Wettern genannt), deren Sohle tiefer als der Marschboden liegt und durch die somit das Binnenwasser abgeleitet werden kann. Bei Ebbe führen sie das Wasser zu Durchlässen im Deich, den Schleusen und Sielen, durch die es letztlich ins weite Meer fließt. Öffnen und Schließen – das sind die Mechanismen, wie mit dem Wasser in der Marsch umgegangen wird.
Um das Strömen des Wassers in der Marsch zu verfolgen, begebe ich mich an eine Deichschleuse. Das Prinzip ist ganz einfach und funktioniert überall dort, wo Wasser wirkt: Es fließt nämlich immer zum tiefsten Punkt. Herrscht also draußen in der Nordsee Ebbe und ist der Pegel niedriger als binnenseits des Deiches, strömt das Wasser auf natürliche Weise hinaus. Dabei öffnen sich durch den Wasserdruck aus dem Binnenland, so lässt sich mit einiger Geduld beobachten, langsam und von selbst die Schleusentore. Je niedriger der Pegel draußen vor dem Deich ist, umso schneller tritt das Wasser hinaus. Auch weiter im Landesinneren beschleunigt sich nun die Strömung. Der umgekehrte Fall tritt mit der Flut ein: Der steigende Außenpegel drückt automatisch die Schleusentore zu, die Flut kann nicht ins Land gelangen. Spannend ist der Moment des Überganges zwischen Ebbe und Flut, wenn für einen Moment alles stillsteht. Das gesamte Schauspiel mit den Gezeiten dauert über zwölf Stunden, man muss also viel Zeit mitbringen, um den Rhythmus des Wassers in der Marsch zu beobachten … .

Deiche, Schleusen und Flethe prägen die Marschlandschaft. Der zuvor auf natürliche Weise vom Meerwasser so segensreich gedüngte Boden konnte nun kultiviert und landwirtschaftlich genutzt werden. Dies begründete jahrhundertelang Wohlstand und Zivilisation, wovon bis heute in der Marsch prachtvoll verzierte Bauernhöfe mit kostbarem Interieur zeugen. Der Deich hatte eine Grenze zwischen Wasser und Land geschaffen, die in der Wahrnehmung der Marschbewohner eine zugleich technische wie symbolische Grenze zwischen »Zivilisation« und »Wildnis« bildet. So notierte der Bremer Geograf Johann Georg Kohl in seinen Reiseberichten Mitte des 19. Jahrhunderts: »Es ist, als wenn man aus den Mauern und Befestigungen einer Stadt in ihre Vorstädte träte. Das Vorhandensein oder Nichtvorhandensein eines Deiches [macht] die Physiognomie der Landschaft anders.«
Das Land vor dem Deich ist amphibisch geblieben: Es wird regelmäßig geflutet und fällt ebenso regelmäßig wieder trocken. Zurück bleibt der Schlick. Dieser Schlick ist für spezielle Vögel ein begehrter Lebensraum – und für den Vogelfreund ideales Revier zum Beobachten: Ich bin an die Mündung der Oste in die Elbe geradelt, lasse mich auf dem Deich nieder und packe mein Fernglas aus. »Vogelschutzgebiet« steht auf einem Schild, das einen mit ausgebreiteten Schwingen gleitenden Seeadler zeigt. Es ist der Hullen, hier geht der Oste- in den Elbdeich über, mit Blick auf die eingedeichte Marsch, das aufgeschlickte Vorland, das Flusswatt und die hier schon fast unendlich weite Elbe. Der mehrere Meter hohe Deich bietet einen guten Standort, und wenn ich mich nicht bewege, nehmen mich die Vögel als Teil der Landschaft wahr. Ich schließe die Augen und lausche dem Konzert der Vogelstimmen: der scharfe, sehr laute Warnruf des Austernfischers, das Zetern von Lachmöwen und Schnattern von Graugänsen. Bald nach meiner Ankunft beruhigen sich die Vögel wieder, nun sind die üblichen Vogelstimmen und -gesänge zu hören. In meinen Ohren summieren sie sich zu einem Orchester mit manchmal mehr, manchmal weniger Instrumenten und einzelnen Soli.
Ich wende den Blick ab vom breiten Strom und richte das Fernglas binnenseits des Deiches auf die Grasflächen der Marsch, vor deren Grün sich das Schneeweiß eines Silberreihers abzeichnet. Dieser langbeinige Vogel war lange Zeit in Norddeutschland kaum zu sehen und taucht neuerdings immer häufiger auf, bisweilen zu zweit oder in kleinen Gruppen. Er sucht seine Nahrung auf Wiesen und Äckern sowie im flachen Wasser und brütet gern im Schilf. Das grüne Land und der weiße Vogel – das sind Impressionen der Marsch, die sich im Gedächtnis einprägen.
Aber eigentlich bin ich gekommen, um hier, an der Schnittstelle von Marsch, Deichvorland und Flusswatt, meine Lieblingsvögel zu beobachten: Limikolen, zu Deutsch Watvögel. Manche Zeitgenossen sagen »Wattvögel« und denken, der Name rühre vom Watt. Diese räumliche Zuordnung ist zwar nicht falsch, aber der Name bezieht sich auf das Waten in schlickigem Grund. Es gibt bekannte und verbreitete Watvögel, wie die Schnepfen, Austernfischer oder Alpenstrandläufer, und seltenere, wie Kampfläufer und Säbelschnäbler. Diese und andere Watvögel lieben feuchte Flächen, Flachwasserzonen und Schlick, wie sie die Marsch bieten. Für sie ist der Deich keine Grenze und so nutzen sie den Raum binnen und buten. Leicht im Fernglas zu erkennen sind Rot- und Grünschenkel, die am Saum der Oste über die bei ablaufendem Wasser schrittweise freigelegten Schlickflächen laufen. Die Namen beider Watvögel verweisen auf ihre charakteristischen Merkmale: In der Sonne leuchten die Beine des Rotschenkels weithin, während der Grünschenkel unauffälliger gefärbt ist. Mit nicht geringer Freude beobachte ich das unterschiedliche Verhalten bei der Nahrungssuche im Schlick. Ich brauche nicht einmal das Fernglas, um sie bei ihren Bewegungen auseinanderzuhalten. Am liebsten schaue ich dem Grünschenkel zu, wie er in hastigen, um sich selbst kreisenden Bewegungen immer wieder seinen Schnabel ins Schlick stößt. Manchmal wirkt er wie ein betrunken Umhertorkelnder, gleichwohl sind seine Bewegungen durchaus gezielt auf Würmer und anderes Kleingetier im nassen Boden ausgerichtet. Etwas weiter entfernt Richtung Ostemündung erkenne ich auch einen Rotschenkel, der sehr viel ruhiger durchs Schlick stelzt. Beide sind gern allein bei der Nahrungssuche, und wenn Artverwandte dabei sind, dann in gehöriger Entfernung. Sie lassen sich auch nicht von einer auf der Oste dahinbrausenden Motoryacht stören.
Sturmflutkatastrophen zeitigten in der Marsch über viele Jahrhunderte ihre tragischen Folgewirkungen: »Hunderte von Toten, das mit grosse[m] getümmel ersäuffte Vieh, zerstörtes Haus, Hab und Gut ließen die Marschenbewohner immer wieder eine tiefe Hertzens Traurigkeit empfinden«, hieß es in einer archivalischen Quelle aus dem späten 17. Jahrhundert. So wird bisweilen der normale Rhythmus von Ebbe und Flut auf bedrohliche Weise unterbrochen. Mit den Sturmflutkatastrophen gewann das Wasser vorübergehend seine Herrschaft zurück, bereits eingedeichtes Land wurde wieder amphibisch. Jene Stellen, wo der Deich brach, sind binnenseits durch Ausstrudelungslöcher gekennzeichnet. Hier schoss das Wasser mit ungeheurer Wucht in den Boden und höhlte ihn metertief aus. Je nach Region heißen sie Bracks, Wehlen oder Kuhlen.
So zeigt sich die Marsch bis heute als historische Kulturlandschaft, die einen reichen Fundus für all jene bietet, die den Spuren einer Gesellschaft nachgehen möchten, wie sie mit dem und vom Wasser lebt – manchmal auch gegen die Fluten kämpfen muss. Noch immer finden wir in der Marsch zahlreiche Relikte ihrer Geschichte: vor allem jene alten Deiche, Schleusen und Wettern, die von der jahrhundertelangen Auseinandersetzung mit dem Wasser zeugen. Auch viele der alten Bracks sind noch in der Landschaft zu erkennen und berichten von Sturmflutkatastrophen, weil es zu aufwändig wäre, sie zuzuschütten.
Ohne Deich keine Marsch: Hier beginnt oder endet die eine Welt, eine andere fängt jenseits des Deiches an. Aber wir wissen, dass diese Grenzen nicht unverrückbar, sondern veränderlich sind. Selbst ein so unbeweglich in der Landschaft stehendes Bauwerk wie der Deich ist daher − historisch betrachtet − eher ein Zeichen für die Veränderlichkeit von Landschaft und für die Veränderlichkeit von Grenzen. Diese Veränderungen wurden von Menschen in die Wege geleitet und durchgeführt. So ist die Marsch eine von Menschen gemachte und weiterentwickelte Landschaft, die sehr viel über die Geschichte ihrer Bewohner auszusagen vermag, über ihren Alltag, ihre Mentalität. Sie ist wie eine in der Landschaft lesbare Geschichte.

Blick auf den Deich © Norbert Fischer
Bei dem Text handelt es sich um überarbeitete Auszüge aus: Norbert Fischer: Marschland. Hamburg 2024 (= European Essays on Nature and Landscape; KJM-Buchverlag).
