VON REGINA SCHLEHECK

Immer noch schließt Oma sie in ihr Gebet ein. Zuerst sie. Danach erst unsere Familie. Margarethe kommt immer an erster Stelle.

»Du warst sechs damals«, sage ich.

»Die ganze Stadt hat getrauert.« Ihr Blick ist verhangen. »Das einzige Mal, dass ich meinen Vater habe weinen sehen.«

Ich hasse das Goldene-Blatt-Gesülze. Dabei liest meine Oma gar keine Boulevardpresse. Sie ist so. Kruppianerin. Vorfahren, Verwandte, Nachbarn, die meisten Angehörigen dieses Universums sind bereits verstorben. Leibeigene, die sich für Auserwählte hielten.

Ich war mit dem Studium weg aus Essen. Heute ist das eine andere Welt. Meine Oma lebt seit fünfzehn Jahren, seit Opas Tod im Seniorenzentrum am Südwestfriedhof. Die letzte der Familie auf der Höhe.

Zu ihrem Neunundneunzigsten hat sie sich einen Ausflug gewünscht. Ich packe ein Bündel Haut und Knochen ins Auto. Sie möchte an der Villa Hügel vorgefahren werden wie eine Herrschaft. Nein, nicht aussteigen. Sitzt, guckt, seufzt.

»Bonzenbau!«, brumme ich.

Schweigen. Wozu ist sie schließlich mit Altersschwerhörigkeit gesegnet?

Nach einer Pause: »Fünfzig Jahre. Es war etwas Besonderes.«

Wieder ein Seufzen. »Nur als die Männer eingezogen waren, war ich ein paar Jahre im Werk. Da ging da ja alles drunter und drüber.«

Mein Stichwort. »Ich dachte, sie hätten die Lücken mit Zwangsarbeitern und KZ-Häftlingen gefüllt!«

Stirnrunzeln.

»Du musst sie gesehen haben, die jüdischen Mädchen!«

Sie kriegt rosige Wangen. »Alfried hat denen gesagt, sie sollten sie gut ernähren, sonst wären sie nicht zu gebrauchen.«

»Und als die Amis näher rückten und sie nach Buchenwald deportiert wurden, hat er ihnen gute Reise gewünscht!«

»Er hat nicht geduldet, dass jemand auf seinem Grund und Boden umgebracht wird!«

»Genau! Das sollten sie lieber schön draußen machen!«

»Das waren anständige Leute!« Omas Stimme ist laut und fest. Sie hat sie gekannt. Und ich habe keine Ahnung, wie schwierig damals alles war.

»Sie haben sich dumm und dusselig verdient. Im deutsch-französischen Krieg hat Krupp Kaiser und Feind gleichzeitig Kanonen geliefert! Hitler wäre ohne ihn nie so weit gekommen.«

»Es waren Geschäftsleute. Sie haben mit Politik nie etwas am Hut gehabt.« Sie sitzt sehr aufrecht, guckt durch das Seitenfenster Richtung Villa Hügel. Queen Mum, die ihre Residenz einer kritischen Prüfung unterzieht. – Eine von über fünfhundert Hausangestellten.

»Wie alle«, höhne ich. »Die geschossen, vergewaltigt, vergast und einfach bloß mitgemacht haben. Ihr alle – Rädchen im Getriebe. Sie – der Antrieb! Guck’s dir an, das Stammwappen mit den drei fetten Rädern.«

»Du hast ja keine Ahnung, wie schwierig damals alles war!«

Die ganze Zeit habe ich darauf gewartet. Augenblicklich bin ich versöhnt. Sie ist meine Oma. Es ist ihr Neunundneunzigster.

»Willst du nicht rein?«, frage ich.

»Ach, Barbara, du willst es nicht verstehen«, sagt sie. »Du bist immer noch das kleine wütende Mädchen. – Lass uns auf die Margarethenhöhe fahren.«

Ich lenke ein. »Ins Altersheim? – Arnold kommt nachher extra aus Köln. Ich wollte euch zum Essen ausführen!«

Der Urenkel ist ein Trumpf, der immer zieht.

Sie schüttelt den Kopf. »Nicht ins Heim.«

»Wohin dann?«

»Es gibt da eine Musterwohnung.«

»Willst du ausziehen?«

»Guck’s dir an.«

Sie zeigt mir die Museumswohnung. Toilette, Badewanne, Vorratsschrank, Ofen, Wohnküche, Doppelbett – Manifestation Kruppscher Fürsorge. Die schwindelerregende Expansion des Unternehmens hatte zu einer Bevölkerungsexplosion in dem beschaulichen Ruhrstädtchen geführt. Versorgungs- und hygienische Lage waren katastrophal. Krankheiten und Alkoholismus grassierten unter den Arbeitern, die doch hochkomplexe Prozesse präzise auszuführen hatten.

»Der Margarethe hatten wir das zu verdanken«, sagt Oma.

Die damals reichste Frau Deutschlands, deren Lebensführung kaum ferner von der meiner Großmutter hätte sein können, hatte Arbeiterwohnungen bauen lassen, Grünanlagen, Brunnen, Kunstwerke.

»Gut investierte Peanuts«, sage ich.

Oma weiß nicht, was Peanuts sind.

»Versündige dich nicht, Kind!«, sagt sie, als ich es ihr erkläre.

»Warum eigentlich ausgerechnet Margarethe?«, frage ich. »Warum hast du nie die männlichen Krupps ins Gebet eingeschlossen? Sie haben die Wohltätigkeiten der Frauen doch erst ermöglicht.

»Ohne die Krupp-Frauen hätten die Männer niemals Derartiges geleistet. Es sind immer die Frauen, die die Familie zusammenhalten.«

»Bist du dann nicht auch eine starke Frau? Meine Mutter? Ich?«

Sie lacht. »Das kannst du nicht vergleichen.«

»Okay«, sage ich. »Margarethe hat ihren Mann vergrault und in den Tod getrieben. Keiner in dieser Familie konnte frei entscheiden über Beruf, Hobbys, Partner, sexuelle Vorlieben.«

»Es geht im Leben nicht darum, dass man seinen Neigungen nachgeht.«

»Puh«, sage ich.

»Homosexuelle Exzesse auf Capri! Als die Schlagzeilen nach Deutschland kamen, hat er sich umgebracht und seine Frau mit dem Unternehmen, den minderjährigen Töchtern und der Schande zurückgelassen!«

»Du – äh – findest, Homosexualität – nun ja, damals war es verboten, klar! Das ging zu der Zeit gar nicht.«

»Es geht auch heute nicht!«, sagt Oma. »Es gibt Pflichten. Verantwortung. Familie.« Sie funkelt mich an. »Kann ein Mann mit einem Mann ein Kind kriegen?«

»Na ja, man könnte ein Kind adoptieren oder eine künstliche Befruchtung machen, es gibt Leihmütter –«

»Lass mich mit so einem Quatsch in Ruhe! Ich bin heilfroh, dass du und dein Mann ein gesundes Kind in die Welt gesetzt habt, auch wenn ihr heute geschiedene Leute seid. Lass es jetzt gut sein!« – Oma steht auf. »Hast du eben gesagt, Arnold kommt zum Essen?«

Sie wackelt in Richtung Toilette. Alle Wohnungen auf der Margarethenhöhe waren 1910 mit einem WC versehen worden. Gepriesen seist du, Margarethe Krupp.

Ich rufe Arnold an.

»Söhnchen, ich glaube, es ist keine gute Idee, wenn du René mitbringst. Vielleicht muss sie gar nichts von der Hochzeit erfahren! – Natürlich ist das blöd. Aber ich fürchte, ihr macht Oma Margarethe keine Freude damit, und es ist doch nun mal ihr Geburtstag! – Mein Gott! Wer weiß, ob man noch mal mit ihr feiern kann!«

Höre die Verletztheit hinter dem Schweigen.

»Und wenn er so lange in einer Kneipe um die Ecke wartet?«

Keine Antwort.

»Sie ist alt«, sage ich. »Versuch es. Eine Frage des Respekts.«

»Genau«, sagt er und legt auf.

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