VON FLORIN IRIMIA

Als ich noch klein war und unschuldig vor mich hinlebte, am Tage unaufhaltsam mit dem Fahrrad herumfuhr und mir abends die Fernsehserien jener Zeit ansah, entdeckte ich eines Tages auf einem seltener genutzten Weg neben dem Wohnblock einen kleinen Plastikwidder, gelb-schwarz und ungefähr so groß wie eine Nuss. Eine Spielzeugfigur. Ich weiß nicht, wie ich ihn gefunden hatte, denn er lag nicht mitten auf dem Weg, sondern eher irgendwo am Rand, in der Nähe einer Mülltonne, zusammen mit ein paar anderen Spielsachen, die wahrscheinlich jemand hatte loswerden wollen. Ich weiß nicht, was mir durch den Kopf ging, als ich ihn vom Boden aufhob, denn normalerweise machte ich solche Sachen nicht. Ich denke, dass vielleicht die auffälligen Farben der Grund dafür waren, oder die Tatsache, dass ich zunächst nicht genau erkennen konnte, was es war, bis ich nahe genug war, was auch der Moment war, als ich mich fragte, warum ich ihn nicht vom Boden aufheben sollte, denn gewiss hielt ich ihn für ausreichend interessant, um ihn mit zu mir nach Hause zu nehmen. Dort wurde er sorgfältig mit Wasser und Seife gewaschen, ja sogar mit etwas Spiritus desinfiziert, wie es mir meine Eltern beigebracht hatten, dann stellte ich ihn auf ein Brett des Bücherregals neben einen kleinen indischen Plastikelefanten, einen Glashund, dem ein Ohr fehlte, und eine zersprungene Porzellanballerina. Danach habe ich ihn fast vergessen. Doch nicht sehr lange. Ich weiß nicht mehr, ob zwei oder drei Wochen vergangen waren, seit ich ihn wie ein verwaistes Kätzchen ins Haus geholt hatte, als ich eines Tages, während ich in einem Buch las, deutlich das Gefühl hatte, dass mit ihm etwas nicht in Ordnung war – oder besser gesagt, seinetwegen mit mir. »Geht es dir gut, Widderchen?«, erinnere ich mich, ihn gefragt zu haben, mehr im Spaß als ernsthaft, dann nahm ich ihn in die Hand und streichelte ihm über den kleinen und festen, hörnerlosen Kopf. Er sagte nichts, jedoch schien es mir auf seltsame Weise, als würde ich einen Befehl erhalten, den ich nicht sehr gut verstand, den ich aber jetzt ausführen musste. An jenem Tag überkam mich ein bleibendes unangenehmes Gefühl, eine Mischung aus Furcht, Wut und Verdruss. Wann immer es geschah, dass ich etwas länger in meinem Zimmer war, richtete sich mein Blick, ohne es zu wollen, auf das Regal, wohin ich ihn gestellt hatte, als packte mich eine unsichtbare Hand am Kopf und drehte ihn in diese Richtung. »Geht es dir gut, kleiner Widder?«, fragte ich ihn eines Tages erneut, wobei ich schon genau wusste, dass dem nicht so war. »Was sagst du da, kleiner Widder?«

»Bring dich um, du Arschloch, bring dich um!«

Es wäre gelogen, wenn ich sagen würde, dass ich diese Worte laut und deutlich gehört hätte, doch es wäre auch gelogen, wenn ich sagen würde, dass ich sie nicht gehört hätte. So ein sympathischer Widder war das Werkzeug des Teufels? Wie konnte das sein? »Wen soll ich umbringen, kleiner Widder?«, bat ich ihn zu wiederholen.

»Dich, du blöder Ochse! Bring dich jetzt um, worauf wartest du noch?!«

Ich wartete tatsächlich nicht lange. Ich nahm den Widder, wickelte ihn schnell in ein Stück Toilettenpapier und warf ihn in die Toilette. Dann zog ich die Spülung. Zweimal, um sicher zu sein.

Es vergingen ein paar Tage, und ich konnte in dieser Zeit gar nicht glauben, was mir geschehen war. Meinen Eltern hatte ich nichts erzählt, denn ich befürchtete, dass sie mich für verrückt halten würden. Dann beschäftigte ich mich wie jedes Kind in diesem Alter mit Spielen, mit meinen Hausaufgaben, mit dem Fahrrad und den Fernsehserien und mit allem, womit ich mich damals eben so beschäftigte, und ich vergaß den Widder.

Womöglich hätte ich mich niemals wieder an ihn erinnert, wenn ich nicht kürzlich, als ich aus dem Block trat, um den Müll wegzubringen, einen Widder entdeckt hätte, der identisch mit jenem war, der mir vor mehr als zwanzig Jahren begegnet war. Er war nass, denn es hatte geregnet.

»Nimm mich mit zu dir nach Hause«, hörte ich in meinem Kopf seine jammernde Stimme. »Ich habe Hunger, und mir ist kalt. Und ich fürchte mich.«

Ich bückte mich, nahm ihn vom Boden und wischte ihn mit einem der Papiertaschentücher ab, die ich immer bei mir trage. »Du bist nicht zufällig der kleine Widder, der mir gesagt hat, dass ich mich umbringen soll, als ich klein war?«, fragte ich ihn misstrauisch. »Wie kannst du es wagen, dich mir erneut zu zeigen?«

»Nein, nein, ich bin sein Bruder«, antwortete mir der Widder mit bedrückter Stimme. »Sein Zwillingsbruder, unschuldig und harmlos. Vor mir musst du dich nicht fürchten!«

»Bestimmt?«, fragte ich ihn. »Bist du dir da sicher?«

»Ja, ich bin mir sicher.«

»Und wo ist dein Bruder?«

»Mein Bruder ist vor zwanzig Jahren ertrunken. Den Mörder hat man bis heute nicht gefunden.«

»Okay«, sagte ich, »dann nehme ich dich mit.« Und ich steckte ihn in die Tasche und war zufrieden mit meiner guten Tat.

Zurück im Haus reinigte ich ihn sorgfältig mit Wasser und Seife, desinfizierte ihn sogar mit ein wenig Spiritus, wie es mir meine Eltern damals beigebracht hatten, danach stellte ich ihn auf ein Brett des Bücherregals, neben ein Holzpferd, ein Metallauto und eine Uhr. Danach vergaß ich ihn fast, doch nicht für lange Zeit.

Ich weiß nicht mehr, ob zwei oder drei Wochen vergangen waren, seit ich ihn wie ein streunendes Kätzchen ins Haus gebracht hatte, als ich eines Tages, während ich in einem Buch las, deutlich das Gefühl hatte, dass etwas mit ihm nicht in Ordnung war – oder besser gesagt, seinetwegen mit mir. »Geht es dir gut, Widderchen?«, fragte ich ihn, mehr im Spaß als ernsthaft, dann nahm ich ihn in die Hand und streichelte ihm über den kleinen und festen, hörnerlosen Kopf. Er sagte nichts, jedoch schien es mir auf seltsame Weise, als würde ich einen Befehl erhalten, den ich nicht sehr gut verstand, den ich aber jetzt ausführen musste. An jenem Tag überkam mich ein bleibendes seltsames Gefühl, eine Mischung aus Leidenschaft, Beklemmung und Vernebelung. Wann immer es geschah, dass ich mehr Zeit in dem Raum verbrachte, in den ich ihn ins Regal gestellt hatte, ging mein Blick, ohne dass ich es wollte, dorthin, als packte mich eine unsichtbare Hand am Kopf und drehte ihn in diese Richtung. »Geht es dir gut, kleiner Widder?«, hatte ich ihn eines Tages erneut gefragt, wobei ich genau wusste, dass dem nicht so war. »Was sagst du da, kleiner Widder? Ich soll mich ans Schreiben machen? Was soll ich denn schreiben, kleiner Widder?«

Aus: Florin Irimia, Der Mann hinter dem Nebel, Dittrich Verlag, ISBN 978-3-910732-30-8

https://www.velbrueck.de/Programm-oxid/Belletristik/Der-Mann-hinter-dem-Nebel.html

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