Good Girl: Archäologie einer Diskriminierung in fünf Textauszügen

VON PETRA KAPPLER

Endlich, die Mail ist geschrieben. Mehrfach Korrektur gelesen. Acht Zeilen nur, doch dafür hat es einen ganzen Nachmittag gebraucht.

Immens wichtig: die angemessene Tonlage treffen. Sehr freundlich in der Ansprache, aber klar in der Botschaft.

Locker, keinesfalls zu lässig. Seriös, bloß nicht spießig.

Visionär. Ich weiß, was Sie brauchen: meine Unterstützung.

Die strenge Zensorin, lokalisiert irgendwo im vorderen Cortex, hat die Zweckprosa für präsentabel befunden und freigegeben. Kann so raus! Später, kurz vorm Einschlafen, noch ein Gedanke: Gut gemacht, fleißiges Mädchen!

Der Anruf kommt prompt. Na, das ging ja schnell. Echt trivial, die Gleichung der Business-Arithmetik zu lösen, denke ich.

Zwischenergebnis: die erste Hürde genommen. Der Rest: ein Kinderspiel. Jetzt kannst du durchstarten mit deiner politischen Arbeit, deinen eigenen Ideen.

Hefte raus, Textaufgabe. Wie viele Gedanken darf sich die Feministin über ihr Äußeres beim Auftakttreffen mit dem männlichen Auftraggeber machen?

Seit einer dreiviertel Stunde nervt die Frauenbeauftragte bei der Anprobe rum:

Weiße Bluse, echt jetzt? Die Farbe der Unschuld, ich muss brechen. Ach so, du willst ordentlich aussehen, schon klar. Das geht natürlich nur mit diesem Büro­ Look. Enge schwarze Hose, vergiss es! Nimm die coole italienische mit dem lockeren Schnitt, dann weiß der gleich mal Bescheid. Du definierst dich nicht über dein Äußeres, sondern deine Expertise. Signale setzen, Mädchen!

Ja, der Blazer geht in Ordnung, halt, da muss noch was Originelles dran, der freche Totenkopf-Anstecker, ein kleiner Spießigkeitsdimmer. Ordentlich Schminken ist okay, na gut, aber hey: kein knallroter Lippenstift, kapiert?

Signale!

Eine praktische Aktentasche dazu? No way, du nimmst deine edle Hobo-Bag, da drin zerknittert zwar alles und du findest rein gar nichts, egal, lässiges Understatement, das ist deine Devise.

[…]

Das Treffen nahe der Spree. Selbstverständlich hast du deine Hausaufgaben gemacht, dich vorbereitet, mit welchen Vorschlägen du bei dem Gespräch punkten kannst.

Da kommt er schon federnd auf dich zu, ausgestreckte Hand. »Ja, wie schön, dass wir uns treffen!«

Die Wahl des Restaurants – distinktiv-nachlässiger Hauptstadtchic – wird ebenso von ihm übernommen wie die anschließende Rechnung.

Doch halt mal, wie war das noch mit der Gleichberechtigung?

Relax, Baby.

Nächstes Mal übernimmst du einfach die Rechnung.

Ihr emanzipierten Frauen könnt manchmal echt unentspannt sein, dröhnt es aus dem Neandertal.

Genau, sich mal entspannen, immer diese Grübelei über die Geschlechterfrage.

Nervig. Hier geht es schließlich ums Geschäftliche. Was hat das denn bitte damit zu tun, wenn du eine Kampagne konzipieren sollst? Da kannst du ruhig mal ein bisschen breitbeiniger auftreten.

Doch das ist gar nicht nötig. Seine Rückmeldung kommt rasch. Die Ideen, die du beim Mittagessen präsentiert hast, sind gut angekommen. Auch das Honorar stimmt für den Anfang.

Das hip eingerichtete Projektbüro – Tischkicker und teure Espressomaschine – sowie das diverse Team täuschen nicht darüber hinweg, dass die Umweltorganisation von den männlichen Campaignern geleitet wird. Deine Aufgabe sieht vor, einmal die Woche persönlich hier zu erscheinen, um die geplante Fundraising-Aktion vorzubereiten. Einmal die Woche auch das Treffen mit ihm, dem Kampagnenleiter. Du merkst: Für dich hat sich ein spezieller Ab­ lauf etabliert, denn das wöchentliche Update des Projektes wird ausnahmslos mit einem Mittagessen in einem Restaurant oder Café verbunden.

Zu zweit. Er zahlt. Immer.

Bitte lies die letzte Passage noch einmal. Kommt dir daran etwas komisch vor?

Gut, fangen wir an:

Das wöchentliche Update wird ausnahmslos mit einem Mittagessen … und was soll an einem Mittagessen jetzt schon wieder schlecht sein? Seriöse Untersuchungen belegen, dass gerade beim Essen Verhandlungen und Gespräche besonders produktiv sind. Na bitte.

Weiter:

Zu zweit? Klingt das nicht irgendwie: privat? Wenn man allerdings zu zweit, also gemeinsam über den Stand eines Projekts reden muss, eben genau nur diese Person zuständig ist und du die Ausführende bist, ja, dann geht es wohl nicht anders. Nun ja, man könnte auch andere Menschen fragen, ob sie mit zum Essen kommen. Das passiert aber nie.

Er zahlt. Immer.

Es zahlt immer dein Auftraggeber? Nur kurz fürs Protokoll, der Auftraggeber ist in diesem Fall diejenige Person, von der die freiberufliche Person, also du, finanziell abhängig ist. Das bereitet dir zunehmend Unbehagen. Diese Schieflage gehört angesprochen. Auf jeden Fall. Ach was, direkt geändert! In einem unbeobachteten Moment orderst du die Rechnung, zahlungsbereit. Dein kleines Manöver wird empört von ihm torpediert, keine eigenmächtigen Zahlungen.

Irritation. Bei dir.

Widerspruch. Von ihm.

Er finde diese Idee, Frauen nicht mehr einladen zu dürfen, total albern, so seine Begründung. Man sei doch erwachsen und müsse sich sowas nicht von selbsternannten männlichen Feministen verbieten lassen. Diese Haltung sei doch schon wieder überholt.

Auf dem Heimweg bin ich sehr in Gedanken. Ist es krampfig, weil ich meine Rechnung selbst bezahlen möchte? Ist das nicht üblich? Man könnte sich zumindest abwechseln. Außerdem hat er sich nie eine Quittung geben lassen, so lässt sich das Ganze nicht mal von der Steuer absetzen.

Einerseits ist mir vollkommen klar, dass es bei geschäftlichen Mittagessen durchaus Usus ist, die Kundschaft einzuladen. Andererseits schwingt definitiv etwas Anderes mit. Das Gefühl, nicht auf rein beruflicher Ebene, sondern als Frau eingeladen zu werden. Dieses Gefühl, es bereitet mir Scham.

Ach, verdammter Mist, ich sitze in der falschen Bahn!

Du musst dir doch was überlegen. Das geht so nicht weiter.

Jetzt mach doch nicht gleich so ein Drama draus, wenn sich alle derart über ein bezahltes Geschäftsessen aufregen würden. Ja, wenn es nur mal ein Essen wäre!

Relax, Baby. Behalt das im Auge, mach einfach deinen Job, dann bist du auf der sicheren Seite.

Die anschließende Konsultation bei deinen Freundinnen ergibt: keine Gefahr im Verzug, solange alles auf professioneller Ebene bleibt. Die Zensorin nickt zufrieden. Professionell bleiben, kein Problem. Dafür wurde vor langer Zeit, als du noch klein warst, die preußische Gouvernante angeheuert. Die kümmert sich um die Disziplin in dem Laden hier. Das komische Gefühl, es bleibt trotzdem.

[…]

Mit meiner Arbeit für die Kampagne komme ich gut voran, es macht mir Spaß, Menschen für das geplante Umweltschutzprojekt zu begeistern. Die Projekte selbst aussuchen, im besten Sinne frei arbeiten. Klar, auch als Selbstständige muss man sich nach dem jeweiligen Auftraggeber, der jeweiligen Auftraggeberin richten. Ohne Kompromiss funktioniert es nicht.

»Kompromiss ist Beschiss«, souffliert die Anarchistin im Oberstübchen.

Ja, reg dich wieder ab. Von deinen Sprüchen bezahlt sich jedenfalls keine Miete.

Da sich der Fundraising-Auftrag zeitlich gut managen lässt, bleibt mir noch Energie für ehrenamtliches soziales Engagement. Für Frauenrechte zu demonstrieren ist mir wichtig. Der spürbare Gegensatz zwischen dem patriarchal dominierten Umfeld bei der Umweltschutzorganisation und meinem Einsatz für die marginalisierten Frauen fällt mir auf. Doch was wäre die Menschheit ohne ihre Widersprüche!

Immerhin: Die leidige Angelegenheit mit dem subventionierten Mittagessen hast du inzwischen geregelt.

Na ja, so halb, kompromissmäßig geregelt. Das ging so: Ein paar Wochen nach dem bekannten Schema »Auftraggeber-zahlt-Freiberuflerin-windet­ sich« bist du mit folgendem Text direkt ins Büro marschiert:

»Ich möchte mittags nicht mehr zum Essen eingeladen werden. Wir können das Projekt genauso gut im Büro besprechen, gerne nach der Mittagszeit.«

Das Gesicht werde ich so schnell nicht vergessen. Es zeigte: die Enttäuschung eines Kindes. Ebenso seine Entgegnung: »Aber darauf freue ich mich doch die ganze Woche.« Richtig kleinlaut.

Ich erwidere, dass ich mich unwohl fühle, ständig eingeladen zu werden. Das sollte eigentlich reichen! Danke, nein, ich möchte das nicht. Kein so komplizierter Sachverhalt.

Warum ich zugleich das Gefühl habe, etwas anbieten zu müssen, keine Ahnung. Vielleicht, weil es mir sofort unangenehm ist, so »dogmatisch« aufzutreten. So streng. Dass es nicht meine Aufgabe, es gar nicht möglich ist, eine Ausgewogenheit in dieser strukturell bereits ungleichen Situation herzustellen, das kommt mir nicht in den Sinn. Insgesamt halte ich seine »Enttäuschung«, das »Vor-den-Kopf-Stoßen« nicht aus. So ist das.

Ich schlage hastig vor: »Nun, ich könnte ja den Kaffee hinterher bezahlen, als Ausgleich.« Darauf wird sich rasch geeinigt. Wie wenig dies mit einem

»Ausgleich« zu tun hat, werde ich noch merken. Denn das eigentliche Problem, die ausgedehnten gemeinsamen Mittagessen, habe ich dadurch um ein zusätzliches Event, den Kaffee danach, erweitert. Und dadurch eine Situation verstetigt, die mehr als gemeinsame Zeit denn als eine berufliche Zusammenarbeit verstanden wurde.

Später habe ich viel überlegt, wie dieses Dilemma aufzulösen gewesen wäre. An welcher Stelle hätte ich anders handeln, mich anders entscheiden können? Wo habe ich die Möglichkeit verpasst, mich zu positionieren?

Selbst ich als Feministin habe lange geglaubt, dass sexuelle Belästigung viel massiver, krasser daherkommen muss. Also mindestens: Frauen an den Busen oder Po zu greifen, anzügliche Sprüche, solche Sachen. Vorfälle, die strafrechtlich relevant sind. Doch Situationen, in denen er sich zu nah neben mich an den Computer setzte, Komplimente machte? Es reichte aus, dass es mir großes Unbehagen bereitete. Mir war nicht bewusst, dass dies auch Belästigung war.

Heute kenne ich einen Grund für meine defensive Haltung: Ich wollte auf keinen Fall einen Aufstand wegen »Kleinigkeiten« machen. Ich dachte: Andere Frauen werden brutal missbraucht und du heulst rum, weil dich dein Auftraggeber immer zum Mittagessen einlädt. Das ist doch lächerlich. Leider ist es gar nicht zum Lachen.

Ich glaube, die meisten Grenzüberschreitungen passieren in der Regel nicht grob und brachial, sondern schleichend und leise. Dabei wird vom Akteur kontinuierlich immer ein Stückchen mit dem Spielbein – nur ein kleines bisschen! – über die rote Linie getänzelt. Das Standbein bleibt nach wie vor solide in seinem Feld. Wenn es brenzlig wird, lässt sich das muntere Spielbein dann rasch und ohne Konsequenzen wieder zurückziehen. War was?

Das sind jene Momente, die dir »komisch« vorkommen. Zum Thema sexuelle Belästigung schreibt die Universität Hamburg auf ihrer Website, dass man diesem diffusen Gefühl, etwas sei »irgendwie komisch« unbedingt trauen soll. Da steht ebenfalls, dass die Annahme, wenn man die unerwünschten Annäherungen, Gesten und Blicke nur ignoriert, dies zum Ende der Belästigung führt, empirisch widerlegt sei.

[…]

Mit dem Jahreswechsel ändern sich die Zuschreibungen, man hat dir einen unbefristeten Vertrag angeboten. Du bist nicht länger Freiberuflerin, sondern Angestellte und hast somit einen Vorgesetzten. Ihn. Er ist dir gegenüber weisungsbefugt. So weit, so deutlich.

Deine dadurch schwindende Autonomie versuchst du dir mit winzigen, widerständigen Handlungen zu bewahren. So wird nun offenbar erwartet, dass du dich beim Arbeitsbeginn als Erstes in seinem Büro zeigst. Da die Tür meist geschlossen ist, ignorierst du das.

So geht das, Woche für Woche.

»Du bist schon da?«

»Sag doch mal Bescheid.«

»Komm doch rein, dann weiß ich, dass du da bist.«

Tja, dafür bin ich einfach zu beschäftigt. Das verrät mein konzentrierter Blick über die Unterlagen hinweg, die ich auf den Schreibtisch gepackt habe. Eine zünftige Leitz-Phalanx ist das. Nonverbale Kommunikation, Grundkurs: sehr viel Arbeit heute. Gleich hole ich noch mehr Akten zum Draufstapeln.

»Mittagessen? Tut mir leid, heute habe ich mir was von zu Hause mitgebracht, das wird sonst schlecht.«

Es tut dir überhaupt nicht leid. Dem erstaunten Blick hast du in dem Wissen standgehalten, damit um den endlosen Lunch herumzukommen. Du bist nun endgültig in Vermeidungs- und Ausweichstrategien gelandet.

Und in der Wut.

Es passierte kurze Zeit später, nach einer Präsentation, die sehr gut gelaufen war. Ein »Grund zum Anstoßen«. Es war ein langer Tag, ich war müde. Eigentlich wollte ich nach Hause, doch ich fühlte mich verpflichtet. Hatte das diffuse Gefühl, mich dankbar zeigen zu müssen für die Gelegenheit, meine Ideen vor der internationalen Partnerorganisation präsentieren zu dürfen.

Ich willigte also ein für ein Essen, und nach knapp zwei Stunden waren wir schon wieder auf der Straße. Na also, das war doch gar nicht so schlimm, dachte ich. Ein beklemmendes Gefühl hatte ich trotzdem. Ich fühlte mich unbehaglich bei dem Gedanken, die Leute im Restaurant hätten das Ganze für ein Date halten können, mit der gesamten Folklore: das Aus-dem- Mantel-Helfen, das Stuhl-Heranschieben, das Wein-Nachschenken.

Ich machte auf die S-Bahn aufmerksam, die mir jetzt bestimmt davonfahre, allerletztes Signal zum Aufbruch, noch artig – wie gewohnt – für die Einladung bedankt, jetzt muss ich aber wirklich dringend los, da werde ich – plump, ungestüm – in den Arm genommen und mit einem feuchten Kuss auf die Wange überrumpelt. Ich erstarre.

Bitte, das ist jetzt nicht passiert. Im nächsten Moment sprinte ich schon in

Richtung S-Bahn, übergangslos in den Turbo geschaltet. Nur weg hier.

Fuck! Ich fluche, laufe, renne, vor meinem geistigen Auge noch das ölige Grinsen.

Die Bahn lasse ich erstmal davonfahren, brauche unbedingt noch die frische Luft, kann jetzt nicht in dem stickigen Tunnel verschwinden.

Relax, Baby.

Das passiert mir nicht mehr, soviel ist klar. Allein gehst du nach Feierabend nirgendwo mehr mit ihm hin. Bei Begrüßung und Verabschiedung nimmst du ab sofort eine Mindestdistanz ein, um solche übergriffe zu verhindern. Dir kommt spontan die Szene in den Sinn, als du von einer Bergtour zurückgekommen bist: sein Strahlen, beide Hände besitzergreifend auf deine Schultern gepackt, tiefer Blick, »na, da bist du ja wieder, in einem Stück«.

Um meine wachsende Wut zu kompensieren, führte ich in dieser Zeit heftige innere Monologe, das Ganze belastete midi zunehmend. Einerseits dachte ich: Jetzt muss endlich mal Klartext her. Dann wieder: Hey, das ist nicht mein Job! Es ist nicht meine Aufgabe, eine Aussprache mit diesem Mann herbeizuführen, der eine Verantwortung als Vorgesetzter hat. Und vor allem: Wie unsagbar peinlich das wäre! Wie in einer Beziehung. »Du, ich glaube wir müssen mal miteinander sprechen.«

Ich achtete weiter penibel darauf, dass meine Arbeitsweise und mein Auftreten ausgesucht höflich und professionell waren. Getreu dem Mantra: Wenn ich mich nur sachlich und korrekt verhalte, bin ich unantastbar.

So sind doch die Regeln. Dabei war ich doch längst angetastet worden.

[ ]

Die Wochen vergehen, der Launch der Kampagne ist in Sicht. Morgens dann der Anruf. Auf der anderen Seite eine Kälte, die mich zusammenfahrenlässt. Knapp wird mir erklärt, dass ich mich im Büro einfinden soll. Ich frage, ob alles in Ordnung sei. Selbstverständlich, alles bestens. Bis später, Wiederhören.

Gar nichts ist hier in Ordnung. Kein bisschen.

Ich bin aufgeregt, doch zugleich beherrscht und rational. Denn heute ist der Tag, an dem Klartext geredet wird. Meine Garderobe wähle ich sorgfältig aus, sie soll mich wappnen für das, was kommt. Ich gehe die Situation antizipativ im Geiste durch, variiere die möglichen Gesprächsverläufe. Ich kenne meinen Text, mir wird jetzt erst bewusst, dass ich diese Situation seit Monaten probe. Ich habe ein solides Repertoire an Formulierungen angelegt, auf das ich zurückgreifen kann. Ich weiß instinktiv: Es geht hier auch um meinen Job.

Im Büro schnappe ich mir irgendwelche Unterlagen und gehe sofort in sein Zimmer. Die Stimmung ist eisig. Ich frage direkt, was los sei, bin ganz ruhig geworden. Er, mühsam beherrscht. Es geht um seinen Anruf an meinem Geburtstag vor ein paar Tagen. Wie verletzend es gewesen wäre, ihn einfach weg­ zudrücken. Er wollte mir doch nur gratulieren.

Alles klar. Mein Stichwort, ich atme tief durch. Ich sage, dass ich ihn schon länger darauf ansprechen wollte. Weil sich hier Privates und Berufliches zu sehr vermischen. Was mir großes Unbehagen bereitet, ich diesen Zustand nicht will. Weil es im Berufsleben nichts zu suchen hat. Ob er das nicht genauso sähe?

Ich mache eine Pause.

Er starrt mich an, blinzelt, ist den Tränen nah. Oh Gott, bitte nicht! Sag doch mal was. Denn ich bin still. Das halte ich jetzt aus.

Dann folgt das »Geständnis«. Dass er sich in mich verliebt habe. Dass es ihn erwischt habe, er nichts dagegen tun könne. Dass es ernst sei. Dass es schlimm sei.

Es ist genauso peinlich, wie es zu erwarten war. Es fühlt sich genauso beschämend an, wie ich es mir ausgemalt habe.

Los! Sieh zu, dass du hier rauskommst.

Doch ich stehe nicht auf und gehe, ich bleibe sitzen. Ich schaue ihn direkt über den Schreibtisch an. Ich spreche jetzt sehr ruhig, wie eine Therapeutin. Erkläre, dass es eine Grenze gibt, die von ihm überschritten wurde, dass ich nicht so fühle wie er, dass es mir um meine Arbeit ginge, schon immer gegangen sei. Ich betone, dass diese Erklärung nicht unerwartet komme, und auch, wie sehr mich die Situation bei meiner Arbeit belastete.

»Ja, was denkst du, wie es mir dabei geht? Das ist auch sehr schwierig für mich.«

Ich erwidere, wie mir seine Annäherungen widerstreben und dass sein Verhalten nicht okay ist. Endlich finde ich den Mut zu sagen, wie schamvoll das Ganze ist: von ihm, einen verheirateten Mann, zum Wein eingeladen zu werden. Ungefragt berührt und geküsst zu werden. Dass es übergriffig ist.

Es ist absurd genug, dass ich diese Lecture halten muss.

»Ach, meinst du denn, ich habe nicht bemerkt, wie du dich immer von mir abwendest, als hätte ich eine ansteckende Krankheit?« Das klingt trotzig.

Krass. Er hat meine Signale empfangen, die Botschaft ist angekommen. Nur: Es war ihm offenbar egal.

»Und wir haben auch so vieles gemeinsam, sind uns richtig ähnlich. Wir ergänzen uns doch so gut, als Team. Unsere ganzen schönen Ideen, das alles  «

Er stockt.

Ich spüre, wie mir langsam übel wird. Lange halte ich diese »Aussprache« nicht mehr durch. Ich bleibe auf meiner Position, biete nichts an. Er fragt mich mit leiser Stimme, ob ich denn unter »diesen Umständen« weiter hier arbeiten möchte.

Was? Unter welchen Umständen? Den Umständen, für die du verantwortlich bist?

Ich erkläre nüchtern, dass ich kein Problem habe, weiter für die Umweltschutzorganisation zu arbeiten, da die Verhältnisse für mich klar sind, ich keinen emotionalen Konflikt verspüre. Ich schlage vor, die nächste Zeit im Homeoffice zu arbeiten. Improvisiere einen Plan, die Projekte ohne Büroanwesenheit zu betreuen.

Er ist einverstanden. »Damit sich die Situation erstmal beruhigt.«

Damit er sich erstmal wieder beruhigt.

Endlich ist es zu Ende, dieses Gespräch. Ich bin ausgelaugt, eine Kopfschmerzattacke lauert auf ihren Einsatz. Trotzdem bin ich stolz auf mich, wie sachlich ich das gemeistert habe. Wie ich meine Haltung bewahrt, mir selbst treu geblieben bin. Niemand hat sein Gesicht verloren. Ich brauche dringend eine Pause, muss raus an die frische Luft.

Nach dem Wochenende komme ich noch einmal ins Kampagnenbüro, um die nötigen Unterlagen für das Homeoffice zu holen. Kaum bin ich durch die Tür, werde ich schon von ihm angerufen, in sein Büro gebeten.

Es gibt keine Einleitung. »Na gut, machen wir es kurz: Du bist gekündigt.« Verzögerung im kognitiven Zentrum. »Was soll das heißen?«

»Das heißt, du bist entlassen. Bestätige mir hier bitte den Erhalt der Kündigung mit deiner Unterschrift.«

Mir wird eine geöffnete Unterschriftenmappe über den Schreibtisch gereicht, die Stelle, die ich unterschreiben soll, ist mit einem Zettel markiert. Hat alles seine Ordnung hier.

Als erstes denke ich: Du darfst nichts unterschreiben! Auf keinen Fall. Dann: Ich muss mir sofort eine Zeugin holen, das läuft hier ganz schräg. Und schließlich: So einfach lasse ich mich nicht feuern. Ich beachte die dumme Mappe gar nicht und erkundige mich kühl: »Entlassen, und aus welchem Grund genau, wenn ich fragen darf? Hat sich jemand von den Geldgebern oder aus dem Team über mich persönlich beklagt?«

»Nein.«

»Habe ich in letzter Zeit meine Arbeit nicht sorgfältig gemacht?«

»Nein, das nicht.«

»Die Kampagne vernachlässigt oder wichtige Termine vergessen?«

»Nein, das kann man nicht sagen.«

»Es gibt also keinen fachlichen Grund für diese Kündigung, noch nicht mal eine Erklärung?«

Langsam verliert er die Fassung, denn auf meine Fragen hat er keine Antwort. »Ich muss dir hier gar nichts erklären.« Das kommt harsch, bösartig. Und dann, eisig, mühsam beherrscht: »Ich muss hier arbeiten können, nicht du.«

Ich habe zehntausend Gedanken und kein einziges Wort. Ich unterzeichne die lächerliche Empfangsbestätigung, stehe auf, werfe mit aller Kraft die Tür hinter mir zu, fahre meinen Rechner runter, bringe einen jetzt überflüssig gewordenen Ordner ins Sekretariat.

Lächeln, lass dir bloß nichts anmerken, vor den anderen. Als ob die nicht Bescheid wüssten!

Ich verlasse paralysiert das Gebäude.

Die Kündigungsfrist beträgt ab heute vier Wochen, dann bin ich arbeitslos, ohne Anspruch auf Leistungen.

In den nächsten Wochen fragt keiner der Campaigner nach, warum mir gekündigt wurde, es wird mir lediglich ein Zeugnis, das »meine Verdienste würdigt« angeboten.

Das lehne ich ab.

Aus Akzente 01/2023; das Heft ist im Dittrich Verlag lieferbar

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