VON DANIA D’ERAMO
Die Tage fangen im Nebel an und enden mit den Rauchfäden des erloschenen Feuers.
In der Frühe ist er schon da, der milchige Vorhang. Kaum bin ich draußen, legen sich seine Schwebeteilchen sachte um mich. Eine kühle, nach Kaminrauch riechende Luft brennt in meiner Nase. Für einen Augenblick sehne ich mich in die Wärme zurück.
Doch der Tag ist im Gang, unvermeidbar zieht er mich hinein – in den Nebel, zum Dorf meiner Großeltern, in den Olivenhain auf den Hügeln des umbrischen Tals.
Es ist November.
Für die Zeit der Olivenernte bin ich dieses Jahr Tagelöhnerin. Ich sitze nicht in halbleeren Hörsälen, den monotonen Stimmen der Dozierenden lauschend. Für mein Semester in Deutschland muss Geld verdient werden.
Kurve um Kurve fahre ich den Hügel hinauf. Nebelumwallt sehe ich nichts vom Friedhof, nichts vom verlassenen Gutshof, über den ich mir als Kind Geschichten ausdachte, nichts vom Instandhaltungswerk der Ferrovie dello Stato, das meinem Vater und meinem Onkel Arbeit gibt. Stattdessen erscheinen auf dem Nebelvorhang Bilder vom Studentenleben am Rhein.
Jeden Morgen, wenn wir Tagelöhner im Olivenhain ankommen, ist Großvater schon da. Während der Ernte ist er unser Vorarbeiter und bestimmt über unsere Bewegungen, unsere Wege. Neben ihm steht Bruno, der zweite Mann. Das ungleiche Paar, denke ich jedes Mal: Großvater groß und dunkel und schweigsam, Bruno klein und hell und immer mit einem Schmunzeln im Gesicht. Beide aber so alt und spindeldürr, dass man annehmen würde, sie schleppten sich nur mühsam jeden Morgen zur Arbeit.
Was für eine Täuschung! Während wir träge auf den Beginn der Arbeit warten, holen die zwei Männer die zusammengefalteten Netze vom Traktor oder legen mit sicheren Griffen die dünnen, fruchtlosen Olivenzweige zusammen, die sie lange vor unserer Ankunft für das Feuer geschnitten haben.
Es ist Bruno, der das Grüßen mit lächelnden Augen übernimmt. Bruno, der mich mit einem Zigarettenkuss auf die Wange empfängt.
Großvater nickt mir mit dem Kopf zu. Dies hier ist kein Ort für familiäre Zuwendung. Das gilt für uns beide. Wie in unserem dunklen Äußeren sind wir uns auch darin ähnlich. Doch wenn wir zufällig nebeneinanderstehen, hebt er die Hand und schlägt mit seinen rauen Fingerkuppen leicht gegen meine Wange.
Wenn die Glocken der Kirche achtmal läuten, zeigt Großvater auf einen Punkt weiter oben im silbergrünen Meer der Baumkronen. Schon bewegt er sich zwischen den kleinen Bäumen umher, ein Holzbündel über die Schultern geworfen. Ortskundig bereitet er den unsichtbaren Weg für uns.
Bruno bestimmt schnell die Dreiergruppen. Wenn Großvater nicht hinsieht, schnappt sich sein Vize meine Hand und zieht mich in seine Gruppe.
In den schweren Schuhen setzen wir uns in Bewegung, jede und jeder mit einer Leiter auf dem Rücken. Über der Schulter hängt der Jutesack, dessen weite Öffnung wie ein aufgerissenes Fischmaul in den Himmel guckt. Nachher werden die violetten Früchte seinen Hunger stillen und unsere Rücken beugen.
Bald sind wir da, am Ende des Hains, höher als der Nebel, der das Tal noch immer umfängt. Die Kälte ist unser Begleiter, aber nicht mehr lange: In einer günstig gelegenen Lichtung wird Großvater das Feuer anzünden.
Jetzt beginnt die Arbeit. Jede Gruppe stellt sich um einen Baum, legt die Netze aus, lehnt die Leiter gegen den Stamm. Wir klettern hinauf und fahren sanft mit den Kämmen durch Blätter und Zweige, bis keine Olive mehr in den Sack oder auf das Netz fällt.
Am Anfang sind wir langsam, die Trägheit ist noch in unseren Körpern. Bis uns unsichtbarer Rauch überrascht und unsere Nasenflügel zittern lässt: Die abgeschnittenen Äste brennen jetzt. Unsere Sinne werden endgültig wach. Als sei die Sehnsucht nach Wärme der Motor, der uns antreibt. Von nun an können wir uns ans Feuer stehlen, immer wenn die Kälte unsere Hände schwächt.
Und jetzt kommt auch die Zeit des Erzählens. Bald erklingen die ersten Stimmen. Zu Anfang wissen wir nicht, aus welchem Baum gesprochen wird. Dann lauschen wir über das Rascheln der Kämme und das Fallen der Früchte hinweg und erkennen, wer spricht.
Es ist ein unausgesprochenes Gesetz, dass es immer Geschichten von früher sind, über das Landleben und die Arbeit. Und weil ich die Jüngste bin und so wenig darüber weiß und bald das alles hier verlasse, richten sich viele der Erzählungen an mich.
Doch Bruno hat etwas vor. Sobald wir oben in der Baumkrone sicher stehen, erzählt er mir Baum für Baum eine ganz andere Geschichte:
Wie er als junger Soldat um ein Haar ums Leben gekommen ist. Wie er dem Tod in die Augen geschaut hat – Augen so hell wie das Wasser des Flusses Menotre, der unweit von hier ins Tal stürzt. Wie junge Soldaten um ihn herum fallen. Und vielleicht weil wir hier auf diesen Hügeln sind und wegen Großvater und seiner Vorliebe für die Jagd, muss ich an Rebhühner denken, ausgerechnet Rebhühner, die vom Himmel fallen, nachdem sie von Kugeln getroffen wurden. Fast meine ich, den dumpfen Schlag auf den Boden zu hören.
Von allen Seiten fallen junge Männer, dunkelhaarige wie blonde. Nicht aber Bruno. Wie er hofft, dass ihm etwas einfällt, damit er nicht zu den Gefallenen zählen muss. Bis er einen Gedanken fasst, der Straßengraben ihm Rettung verspricht und er sich fallen lässt. Wie er in unmerklichen Bewegungen dorthin kriecht. Die Minuten vergehen. Und im Graben kommt ihm dann noch ein Gedanke, der ihn die Hände, die Arme ausstrecken lässt, bis er einen Toten ertastet. Wie seine Hände ihn in kleinen Rucken auf sich in den Graben ziehen, während er horcht: dumpfe Schritte von schweren Stiefeln, Gewehrschüsse, schnelles Atmen, Soldaten, die fallen, nachdem sie von Kugeln getroffen wurden. Und wie er dabei denkt, jetzt möge der liebe Gott ihn schützen und keiner sehen, wie er die Leiche auf sich zieht.
Und als der Tote auf ihm liegt – weißt du wie schwer ein lebloser Körper ist? –, wird die Luft metallisch. Und da bemerkt Bruno das silberne V an der Schulter und die Farbe der Uniform. Grigio ulivo, flüstert er mir zu. Ein toter deutscher Soldat hat mir das Leben gerettet, betont er und reckt den Hals, bis sein Blick meine Augen fängt und ich sehe, wie er zwischen den Blättern grinst, das Haar weiß, der Mund, aus dem die Raucherzähne gelblich leuchten, verzerrt.
– Lavorate, arbeitet! –, ruft Großvater irgendwann von weitem und ich weiß, er meint uns, und zucke zusammen. Bruno grinst weiter, wird aber still. Später oder morgen wird er weitererzählen.
Inzwischen hat der Nebel begonnen, sich aus dem Tal zurückzuziehen, erst kaum bemerkbar, nun deutlich. Wir richten uns auf den Leitern auf und schauen hinunter. Es ist, als atme die Erde die Nebelwolken ein. Wie ein Mund, der alles in sich aufsaugt. Wir verfolgen, wie unter uns eins nach dem anderen Dinge auftauchen, wie gerade erst entstanden: der stämmige Kirchturm mit den Glocken, deren Läuten bis dahin gespensterhaft das träge Vorankommen des Tages begleitet hat, die ockergelbe Kirche, dann die alte Villa, die jetzt eine Schule ist, umsäumt von den gewundenen Pinien, das Dorf und schließlich das Tal, erst eng, dann breit mit dem blassvioletten Umriss des Apennins in der Ferne.
Dann schlagen die Glocken zwölfmal: Wir lassen alles stehen und gehen zum Feuer. Beim Geknister der Glut essen wir auf dem Boden – die Älteren aus ihren erwärmten Metallbehältern, ich meine Brote. Irgendjemand hat immer caffè corretto in einer Thermoskanne dabei und wir lassen ihn herumgehen. Allein der alkoholische Dampf benebelt uns, bis die Stimmen fröhlicher werden, gescherzt wird, in Deutschland würde ich von so etwas hier nur träumen, und Bruno anfängt, Witze zu erzählen. Selbst Großvater schmunzelt. Ich sehe zu, wie Bruno mit schnellen Gesten seine Worte unterstreicht, eine Zigarette in der Hand, der Mund breit lachend, im Kopf habe ich noch sein Gesicht von vorhin und denke, es wäre schön, morgen, wenigstens nur morgen, nicht in seiner Gruppe zu sein.
Die Nachmittagsstunden vergehen schnell. Seltener bewegen wir uns zum Feuer zurück. Es gibt auch keinen Grund mehr: Großvater hat aufgehört, es zu füttern. Nur schwach ist jetzt die Wärme, die es ausstrahlt, bis es sich schließlich in dünnen Rauchfäden auflöst.
Wenn die Glocken viermal läuten, stellen wir die Leitern zusammen, falten die Netze, tragen die schweren Säcke zum Traktor. Bruno macht sich damit auf den Weg zur Mühle. Er wird der Einzige sein, der zusehen wird, wie die sattgrüne Flüssigkeit zäh zwischen den Mühlsteinen hervortritt. Morgen wird er stolz davon erzählen.
Müde verlassen wir den Hain.
Unten am Parkplatz verabschiedet sich Großvater mit seinem sachten Fingerkuppengruß.
– Ciao ciccelle’-, sagt er und mir fällt wieder einmal auf, wie schroff er klingt, im Widerspruch zum Vögelchen, das ich für ihn immer noch bin. Zufrieden schlendert er nach Hause ins Dorf, ein Schilfrohr leicht nach vorn gebeugt, und ich nehme mir vor, ihn öfter von Deutschland aus anzurufen.
Ein graublauer Schimmer hat sich inzwischen über alles gelegt und erinnert uns, dass auch der Tag zu Ende geht. Schon erscheinen die ersten Lichter im Tal.
Während ich zurückfahre, ist jetzt alles sichtbar.
Doch den vertrauten Weg, die krächzende Musik aus dem Radio, nichts nehme ich wahr – nur die raue Erinnerung auf meiner Wange und den Geruch von verbrannten Olivenzweigen und Zigarettenrauch, der auf mir haftet wie eine zweite Haut.
