VON HUGO BERGHAM
Wer einen gleich mehrere Dekaden umfassenden Erziehungs-, Bildungs- und Gesellschaftsroman verfasst, wie Anthony Powell es mit seinem zwölfbändigen A Dance to the Music of Time getan hat, der wird sich mit besonderer Aufmerksamkeit darum kümmern, wie seine Figuren altern. Sie sind – laut dem Titel des 11. Bandes – Temporary Kings, Könige auf Zeit, nur für eine begrenzte Zeit auf dem Gipfel ihres Seins. Shakespeare beschreibt in seinem All the world’s a stage-Monolog in As you like it die sieben Lebensabschnitte durch äußere Merkmale, das »mewling and puking« des Säuglings »in the nurse’s arms«, der Liebhaber »sighing like a furnace«, der Erwachsene »in fair round belly« und der Greis in seiner »youthful hose, weil saved, a world too wide«. Diese strange eventful history kann auch durch innere memento mori, Monologe oder, wie bei Marcel Proust, durch Erinnerungen, die Suche nach dem Vergangenen, erzählt werden. Obwohl Powell viel von Shakespeare wie auch von Proust hielt, hat er einen dritten Weg gewählt: Er schildert über die verstreichende Zeit hinweg Erlebnisse und Ereignisse, die das Altern der Handelnden suggerieren. Ein auf derart immanente Weise dargestellter Alterungsprozess verlangt große Kunstfertigkeit, vor allem, wenn das Personal so vielköpfig ist. Schon in den Titel seines Romanzyklus hat Powell – mit der eindeutigen Referenz zur Zeit – den Prozess der Vergänglichkeit eingeflochten. Neben Prousts Recherche ist der Dance vielleicht die ehrgeizigste literarische Unternehmung im 20. Jahrhundert, die um die Zeit kreist, die Zeit der Gesellschaft, und um die persönliche Erinnerung.
Ewig jungen Serienhelden, wie zum Beispiel dem unverwüstlichen Elvis Cole des US-Autors Robert Crais, bleibt so etwas erspart. Zwischen The Monkey’s Raincoat aus dem Jahr 1987 und The Big Empty aus 2025, also nach 40 Jahren und 20 Serienromanen, hat sich nichts verändert: Man merkt Elvis den Alterungsprozess nicht an. Anders Nicholas Jenkins, dem alter ego von Powell und Ich-Erzähler des Dance, der in der frühesten Episode des Zyklus ungefähr zehn Jahre alt ist und mithin am Ende des letzten Bandes Hearing Secret Harmonies aus dem Jahr 1975 mindestens siebzig ist. Seine Geschichte und die seiner Weggefährten wird in vielen Kapiteln und Episoden eines langen, ereignisreichen und wechselvollen Lebens geschildert. Und Nick ist dabei ebenso wie seine Mitstreiter und anders als Elvis Cole deutlich älter geworden.
Der nicht mehr ganz so junge Powell verwirklichte nach dem Krieg sein Vorhaben, einen vielbändigen Gesellschaftsroman zu schreiben. Der Haupttitel A Dance to the Music of Time ist ihm bei Betrachtung des gleichnamigen Gemäldes von Nicolas Poussin eingefallen. Vier Gestalten, mit dem Rücken zueinander zur Musik des Flöte spielenden Gottes Chronos im Kreis drehend, das war das treffende Symbol für Powells Roman fleuve.
Es ist ein Kunststück, angesichts der Vielzahl der Charaktere und des sehr langen Handlungszeitraums nicht den Überblick zu verlieren. Wie macht Powell das mit diesem nahezu unüberschaubaren Kreis seiner Romanfiguren, die den gut sechzig Jahre währenden Zeitverlauf bespielen?
Er konstruiert literarische Roundabouts, in die auf unterschiedlichen Handlungssträngen eine begrenzte Anzahl seiner Figuren einfährt, mehrmals mit einander im Kreis fährt und dabei eine Episode gemeinsam durchlebt, um sich dann über verschiedene Ausfahrten zu zerstreuen, sich im weiteren Handlungsablauf zu verlieren oder zu einem späteren Zeitpunkt erneut einen solchen Roundabout zu bilden, mit anderen Figuren und anderen Handlungssträngen. Über all diese Episoden berichtet natürlich Ich-Erzähler Nick Jenkins, aber ein Teil der jeweils handelnden Personen stellt die Verbindung zu dem Personal aus einem früheren Kreisverkehr her und sorgen so für einen kontinuierlichen Handlungsverlauf.
Dieses Erzählkonstrukt sei an einem Beispiel illustriert: Als am 28. Juni 1914 der General Aylmer Conyers und seine Frau Bertha bei den Jenkins in deren Haus in Stoneburst zum Lunch eingeladen sind, betritt das Hausmädchen Billson splitterfasernackt das Wohnzimmer, um ihre Kündigung einzureichen. Sie wird vom Diener Bracey verehrt, bat aber selber nur Augen für den Koch Albert Creech, der ihre Zuneigung zu ihrem Kummer bedauerlicherweise nicht erwidert. Stattdessen hat Albert, ein mürrischer Zeitgenosse, der schon bei Nicks Großmutter in Diensten stand und nichts mehr als die inzwischen überall aktiven Suffragetten fürchtet, sich mit einer anderen verlobt und gekündigt. Das hat bei der leicht erregbaren Billson, die den Hausgeist von Stonehurst schon zweimal gesehen hat, zu einem Nervenzusammenbruch geführt. General Conyers rettet die Situation, indem er die verwirrte junge Dame in eine Decke wickelt und sie aus dem Raum führt. Wir kennen das Datum so genau, weil nach Billsons Abgang die Nachricht verbreitet wird, dass am Morgen in Sarajewo auf den österreichischen Thronfolger Franz Ferdinand geschossen worden sei.
Was passiert jetzt mit den handelnden Personen?
Die Conyers tauchen im vierten Band At Lady Molly’s wieder auf. Nicks Mutter, immer nur Mrs. Jenkins, ohne Vornamen, will mit Bertha Conyers Wohltätigkeitssammlungen für das VAD (eine Organisation von Hilfs-Krankenschwestern) besprechen. Berthas zwanzig Jahre jüngere Schwester Mildred taucht auf und beeindruckt Nick positiv durch ihre Frivolität, sie raucht und flucht, und ihre Schwester und Mrs. Jenkins negativ durch ihr provokantes Auftreten: Sie ist geschminkt und verstößt gegen alle Konventionen. Bertha ist die älteste und Mildred die jüngste von sechs Töchtern von Lord Vowchurch, einem Intimfreund von Bertie, erst Prince of Wales, dann King Edward VII. Bertha heiratet spät den zwanzig Jahre älteren General und ist davon selbst überrascht, sie stirbt früh. Mildred verlobt sich (viel) später, da ist sie nach den Worten der Kritikerin Elizabeth Bowen schon eine tough Riviera widow, zum allgemeinen Entsetzen mit Kenneth Widmerpool, dessen vorehelicher Annäherungsversuch allerdings an seiner Unbeholfenheit scheitert.
Während des Besuchs übt der General, der jetzt in einer Art Ehrengarde bei Hof aktiv ist und die Ausbildung von Pudeln zu Jagdhunden aufgegeben hat, das Ave Maria von Gounod auf seinem Cello – eine gewisse Stelle will ihm einfach nicht gelingen, und diskutiert mit Nick das neu erschienene Buch Orlando von Virginia Woolf. Als Nick um seine Meinung gefragt wird, weicht er aus. Aber als er sich festlegen soll, »Did you like it, yes or no?«, antwortet er »No« und als Conyers dagegen hält, »That woman can write« meint Nick: »Yes. I can see that.
But I still didn’t like it«. So wird auch ganz nebenbei Powells Konflikt mit Bloomsbury, deren Mitglieder er für pretenders hielt, abgehandelt.
Der etwa Mitte des 19. Jahrhunderts geborene Aylmer Conyers heiratet gleich nach dem Tod seiner Frau noch einmal, und zwar Tuffy Weedon, die sich zuvor um Charles Stringham, einen inzwischen alkoholkranken Schulfreund von Nick in Eton, gekümmert hat. Der General stirbt, da muss er bereits über 90 Jahre alt sein, im Blitz über London, wo er als Air Raid Warden aktiv ist.
Währenddessen kehrt Billson nach ihrem Stonehurst-Auftritt zu ihren Verwandten in Suffolk zurück und diffundiert im Hintergrund. Gut möglich, aber keineswegs sicher ist, dass sie mit jener Doreen identisch ist, die am Ende des 2. Weltkriegs in Diensten von Rosie Undall wiederauftaucht. Auch die Eltern Jenkins verschwinden eher unauffällig. Der Vater regt sich noch über das vorzeitige Ableben seines Bruders Uncle Giles auf, weil dadurch die Frage des geheimnisvollen Family Trust offenbleiben muss; von seinem Tod Ende der 40er Jahre hört man nur am Rande. Auch Mrs. Jenkins verschwindet nach dem Besuch bei den Conyers von der Bildoberfläche; zuletzt erinnert Nick sich während eines Schriftsteilerkongresses in Venedig an sie und einen gemeinsamen Besuch dort.
Wechsel des Roundabouts. Obwohl nur eine Randfigur, wird aus dem Koch Albert Creech das Bindeglied zum nächsten Roundabout. Zwischendurch in einer Kantine tätig, treffen wir Albert 1939 im sechsten Band The Kindly Ones wieder, als Patron des Guest Houses Bellevue an der englischen Kanalküste. Hier will General Conyers seine zweiten Flitterwochen verbringen und im Bellevue residiert regelmäßig auch Uncle Giles, der dort am Ende auch stirbt. Zur Unzeit, weil das mit dem Family Trust noch nicht geklärt ist. Als Nick eines Tages Uncle Giles dort besucht, trifft er im Frühstücksraum zufällig auf den zwischendurch in wirtschaftliche Nöte geratenen Geschäftsmann Bob Duport, den Gatten seiner ersten Freundin Jean Templer. Dieser Bob hatte seine Frau mit nach Süd-Amerika genommen, wo sie ihn aber nach der Geburt ihrer Tochter Polly nur ein Jahr später schon wieder verließ.
Diese Jean, damals permanent auf der Suche nach Tennispartnern, hat Nick 1923 während eines Wochenendes auf dem Lande kennen- und später, da war sie schon mit Bob verheiratet, liebengelernt. Bob schimpft über die Untreue seiner Frau, ohne zu ahnen, dass auch und gerade Nick zu deren vielen Liebhabern zählte. Für Nick war es schon schlimm genug, dass Jean diesen vulgären Bob geheiratet hat, aber als er erfährt, dass sie auch noch eine Affaire mit ihrem Schwager Jimmy Stripling hatte, ist das für ihn »kaum erträglich«.
Erneuter Wechsel des Roundabouts. Dieses Mal sind es die Duports, die für die Kontinuität der Handelnden sorgen. Nach seiner Begegnung mit Bob im Bellevue hatte Nick Jean zuletzt im neunten Band Military Philosophers bei den Feierlichkeiten anlässlich der deutschen Kapitulation wiedergesehen. Er hätte sie beinahe nicht erkannt, denn Jean hat sich total verändert. Sie ist jetzt eine Senora Flores, Gattin eines argentinischen Junta-Generals, ein »Rudolph Valentino on a day off«. Und wieder Jahrzehnte später, im letzten Band der Serie Hearing Secret Harmonies, begegnen sich Nick und Jean in einer Galerie am Berkeley Square zum letzten Mal. Jean ist zu Bob zurückgekehrt, nachdem General Flores ermordet wurde. Sie kümmert sich um ihren Ex-Gatten, der inzwischen dement und an den Rollstuhl gefesselt ist. Bei ihnen ist Polly, die durch ihre Affaire mit dem Hollywood-Tycoon Louis Glober, der 1960 bei einem Autounfall an der Moyenne Corniche ums Leben gekommen ist, inzwischen eine international gefeierte Schauspielerin geworden ist.
Die Duports wollen ihre Gemälde des Malers Edgar Deacon verkaufen. Dieser Deacon, inzwischen lange tot und längst vergessen, spielte im 1960 erschienenen Casanovas chinesisches Restaurant eine große Rolle als Antiquitätenhändler mit zweifelhaften Methoden. Die Duports werden von Norman Chandler begleitet, damals der Geliebte von Deacon und als Tänzer ein Versager, der dann als Bühnenregisseur mit The Duchess of Malfi vielversprechende erste Schritte unternahm. Offenbar erfolgreich, denn jetzt hat er ein viel beachtetes Strindberg Stück mit Polly Duport inszeniert. Und Polly wiederum ist mit einem Dr. Gibson Delavacquerie verlobt, der ein Verhältnis mit Matilda Moreland hatte, die seiner zeit die Julia in The Duchess of Malfi spielte.
Und die Geschichte rundet sich: Die Galerie gehört Barnabas Henderson, der einer Sekte, die von dem charismatischen Scipio Murtlock beherrscht wird, entkommen konnte. Dieser Sekte hat sich auch Kenneth Widmerpool angeschlossen. Und von diesem hat Barnabas Neuigkeiten, aber keine guten …
Man sieht: Alles ist miteinander verwoben, die vergehenden Zeitabschnitte, die verschiedenen Handlungsorte und die vielen Episoden, die die Protagonisten er leben, verbinden sich zu einem Mosaik, das sich aber erst ex post zu einem Gesamtbild rundet. Die Schicksale der Protagonisten werden dem Leser durch die den Lebensalltag beherrschenden small things vermittelt. Diese small things, die Powell in einer Art literarischem Pointillismus in den Vordergrund seiner Erzählung stellt, verbinden sich erst in der Vogelperspektive zum großen Ganzen. Selbst als in einer Blitznacht diverse Personen ums Leben kommen, lässt Powell die Überlebenden nicht über die Sinnfragen des Lebens nachdenken, sondern über die Haltung der zu den Opfern zählenden Lady Molly zu Modefragen. So lässt Powell uns am Leben und an der Entwicklung seiner Figuren über die Zeit hinweg teilhaben. Und dadurch entsteht ein einzigartiges Gesamtkunstwerk, in dem Autor, Leser und Romanpersonal gemeinsam miteinander alt werden.
Erzähltechnisch gehört Powell zu den Meistern der unendlich reproduzierbaren Zeitschleifen, die zyklische Struktur der Bände wird zum Abbild der zyklischen Natur der Zeit.
Aus Akzente 02/2025; das Heft ist im Dittrich Verlag lieferbar