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Akzente Digital

In Akzente Digital präsentieren wir Ihnen ausgewählte Beiträge von Autorinnen und Autoren – Essays, Rezensionen, literarische Reflexionen und mehr. Entdecken Sie neue Perspektiven und aktuelle Themen aus der Welt der Literatur.

Marschland

VON NORBERT FISCHER Marschland ist von Menschen gemacht. Es liegt an der Nordseeküste und den dort mündenden Strömen – flaches, tiefgelegenes Land, das vom Meer genommen wurde. Ich mag seine Weite, den Blick bis zum Horizont, das satte Grün, den häufig aus Nordwest wehenden Wind mit den treibenden Wolken. Ich sehe Weiden und Koppeln, grasende Rinder und Pferde, Äcker mit Feldfrüchten und Obstbaumwiesen. Das Schilf und die Weidenbüsche an den Ufern der Wasserläufe sind Heimat für Flora und Fauna, Gänse grasen auf den Grünflächen und Watvögel stelzen im Schlick, am Himmel kreisen jagende Greifvögel. Die Marsch ist eine fruchtbare Gegend. Ursprünglich handelte es sich um einen amphibischen, von den ein- und ausströmenden Gezeiten mit ihren Prielen geformten Raum. Das nährstoffreiche Meerwasser düngte den niedrig gelegenen Boden auf natürliche Weise und machte ihn höchst fruchtbar. Aber die Grenzen zwischen Wasser und Land blieben fließend: wann war was Land oder Wasser? Die

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Grauoliv

VON DANIA D’ERAMO Die Tage fangen im Nebel an und enden mit den Rauchfäden des erloschenen Feuers. In der Frühe ist er schon da, der milchige Vorhang. Kaum bin ich draußen, legen sich seine Schwebeteilchen sachte um mich. Eine kühle, nach Kaminrauch riechende Luft brennt in meiner Nase. Für einen Augenblick sehne ich mich in die Wärme zurück. Doch der Tag ist im Gang, unvermeidbar zieht er mich hinein – in den Nebel, zum Dorf meiner Großeltern, in den Olivenhain auf den Hügeln des umbrischen Tals. Es ist November. Für die Zeit der Olivenernte bin ich dieses Jahr Tagelöhnerin. Ich sitze nicht in halbleeren Hörsälen, den monotonen Stimmen der Dozierenden lauschend. Für mein Semester in Deutschland muss Geld verdient werden. Kurve um Kurve fahre ich den Hügel hinauf. Nebelumwallt sehe ich nichts vom Friedhof, nichts vom verlassenen Gutshof, über den ich mir als Kind Geschichten ausdachte, nichts vom Instandhaltungswerk der

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Dein aschenes Haar, Margarethe

VON REGINA SCHLEHECK Immer noch schließt Oma sie in ihr Gebet ein. Zuerst sie. Danach erst unsere Familie. Margarethe kommt immer an erster Stelle. »Du warst sechs damals«, sage ich. »Die ganze Stadt hat getrauert.« Ihr Blick ist verhangen. »Das einzige Mal, dass ich meinen Vater habe weinen sehen.« Ich hasse das Goldene-Blatt-Gesülze. Dabei liest meine Oma gar keine Boulevardpresse. Sie ist so. Kruppianerin. Vorfahren, Verwandte, Nachbarn, die meisten Angehörigen dieses Universums sind bereits verstorben. Leibeigene, die sich für Auserwählte hielten. Ich war mit dem Studium weg aus Essen. Heute ist das eine andere Welt. Meine Oma lebt seit fünfzehn Jahren, seit Opas Tod im Seniorenzentrum am Südwestfriedhof. Die letzte der Familie auf der Höhe. Zu ihrem Neunundneunzigsten hat sie sich einen Ausflug gewünscht. Ich packe ein Bündel Haut und Knochen ins Auto. Sie möchte an der Villa Hügel vorgefahren werden wie eine Herrschaft. Nein, nicht aussteigen. Sitzt, guckt, seufzt.

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WIR-machen!

VON SUSE SCHRÖDER Vielleicht ist’s nie genug? Wir entern die Handtücher einer Familie im Schatten. Du sputest sich. Auch dein zweites Kniegelenk ist in deinen Körper hineingewachsen. Du sagst: »Wenn sie zurückkommen, zieh als erstes das Shirt über meinen Bauch und mich dann hoch. Wenn’s nicht gelingt, versuch ich es über den Vierfüßler.« »Klar!«, sage ich. Du lässt dich auf deinen Hintern plumpsen, kippst den Oberkörper nach. »Ich liege«, sagst du und zuppelst dein Shirt nach oben. »Oma«, sage ich, »die Leute sehen Deine linke Brust.« »Haben sie eben was zu sehen«, sagst du und legst auch die andere frei, beide im Büstenhalter gefangen. »Oben ohne machen wir mal mit mehr Publikum auf unserer eigenen Decke.« Wir klatschen ab. Ich liege mit dem Blick stur in den Wolken. du bist immer noch totdas ist jetzt so Mein Großer und ich stecken die Köpfe durch die Tür. Deine runden, rosigen Wangen

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Könige auf Zeit: Anthony Powells literarische Roundabouts

VON HUGO BERGHAM Wer einen gleich mehrere Dekaden umfassenden Erziehungs-, Bildungs- und Gesellschaftsroman verfasst, wie Anthony Powell es mit seinem zwölfbändigen A Dance to the Music of Time getan hat, der wird sich mit besonderer Aufmerksamkeit darum kümmern, wie seine Figuren altern. Sie sind – laut dem Titel des 11. Bandes – Temporary Kings, Könige auf Zeit, nur für eine begrenzte Zeit auf dem Gipfel ihres Seins. Shakespeare beschreibt in seinem All the world’s a stage-Monolog in As you like it die sieben Lebensabschnitte durch äußere Merkmale, das »mewling and puking« des Säuglings »in the nurse’s arms«, der Liebhaber »sighing like a furnace«, der Erwachsene »in fair round belly« und der Greis in seiner »youthful hose, weil saved, a world too wide«. Diese strange eventful history kann auch durch innere memento mori, Monologe oder, wie bei Marcel Proust, durch Erinnerungen, die Suche nach dem Vergangenen, erzählt werden. Obwohl Powell viel

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Good Girl: Archäologie einer Diskriminierung in fünf Textauszügen

VON PETRA KAPPLER Endlich, die Mail ist geschrieben. Mehrfach Korrektur gelesen. Acht Zeilen nur, doch dafür hat es einen ganzen Nachmittag gebraucht. Immens wichtig: die angemessene Tonlage treffen. Sehr freundlich in der Ansprache, aber klar in der Botschaft. Locker, keinesfalls zu lässig. Seriös, bloß nicht spießig. Visionär. Ich weiß, was Sie brauchen: meine Unterstützung. Die strenge Zensorin, lokalisiert irgendwo im vorderen Cortex, hat die Zweckprosa für präsentabel befunden und freigegeben. Kann so raus! Später, kurz vorm Einschlafen, noch ein Gedanke: Gut gemacht, fleißiges Mädchen! Der Anruf kommt prompt. Na, das ging ja schnell. Echt trivial, die Gleichung der Business-Arithmetik zu lösen, denke ich. Zwischenergebnis: die erste Hürde genommen. Der Rest: ein Kinderspiel. Jetzt kannst du durchstarten mit deiner politischen Arbeit, deinen eigenen Ideen. Hefte raus, Textaufgabe. Wie viele Gedanken darf sich die Feministin über ihr Äußeres beim Auftakttreffen mit dem männlichen Auftraggeber machen? Seit einer dreiviertel Stunde nervt die Frauenbeauftragte

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