VON MONIKA BUSCHEY

1.

Wenn alles gut geht, wenn gleich am Morgen alles gut gegangen ist – dann ist es gut. Dann ist der Tag – wo nicht gerettete, so doch frei von unbrauchbarer Spannung.

Das doch immerhin.    

Denn es bringt Mut und Selbstvertrauen, an jedem Tag Geformtes auszusenden. Hinaus in Gottes schöne Welt. Wenngleich die Welt dafür nicht unbedingt sofort Verwendung hat. Es muss zuvor in vielen Schritten Umwandlung geschehen: Ablagern, kompostieren, Rotte.

Für Gebende im Augenblick des Gebens ist‘s nicht wichtig. Für sie ist das Gefühl um so viel schöner, wenn‘s nicht gar wild hervor bricht aus der Höhle. Wenn neu Geformtes sich den Raum erobert, und hübsch gemäßigt so den Kreislauf allen Lebens unterstreicht. Befreit verlässt der gut Entlastete den stillen Ort der Tat, recht frei im Bauch und frei im Hirn – die windungsreichen Gegenden des Leibes erlöst von jedem Druck.

Endlich vorbei, die Zeit der Stockung. Das schlimmste Übel nämlich ist Verfestigung. So unliebsam wie ungesund. Gemeint ist hier das unnachgiebig Feste, das Harte, Unbewegliche, lichtscheu und stinkend doch zugleich, das selbst in stundenlanger Qual nicht rauszubringen ist.

Von Erde warst du einst genommen, und ihr, der Erde gibst du dich zurück. Stück für Stück. Wenn’s gut geht Tag für Tag. Gnädig ernährt sie dich, schickt durch dich durch die Früchte, die sie bringt und nimmt dann wieder auf, was du daraus gemacht. Die Qualität, das allerdings, hängt zwingend ab vom Grundton deiner Seele.    

Seit langem ist mir klar, dass Gott mich strafen will mit langem Leben. Es ist beileibe keine Lust, so alt zu werden und Freude bloß noch zu empfinden, wenn‘s endlich mal gelingt, zügig zu scheißen!

Der Trank hat‘s bewirkt, das Gemenge von Schillkraut und Brennnessel, von Hornklee und dem bittren Wermut. Drei Tage muss er ziehen, an nicht zu heißem Ort, dann wirkt er über Nacht.

Freilich wüsste ich das Leben zu kürzen, auch zu enden abrupt Kraft der segensreichen Kräuter. Doch steht‘s mir nicht zu. Wär‘ es nicht neue Sünde auf mein sündig Haupt?

Soll aber gesprochen werden von den Mühen des Alltags in fortgeschrittener Lebenszeit, so wäre zu nennen vor allem die Unruhe des Geistes, die flatternden Gedanken, die kein Gebet zu bündeln mehr vermag.

Nichts ist schlimmer.

Noch das arge Weh im Knie- und Hüftgelenk wiegen gering dagegen, und gering das sachte Schwinden von Hören und Sehen, die empfindliche Empfindlichkeit der verbleibenden Zähne, die Luftnot bei geringer Anstrengung, die Neigung zum Albtraum, das jähe Erwachen mit klopfendem Herzen.

Wären die Kräuter nicht, die schleichenden wie die schreienden Übel zu mildern, längst läge im Grab das faulende Gebein. So ist das Mildernde zugleich Verschärfung der Strafe, ein immerwährend Auslöffeln der eingebrockten Sauer-Suppe bis zum Schluss. Kein selig Ende darf sich der Sünder erhoffen. Ansteigen der Qual nur und endlich röchelndes Verlöschen.

So wünscht ich mir also, die Sünde der Jugend nicht begangen zu haben?

Niemals und nimmer.

Ist doch die Lust die Kraft zum Leben selbst.

2.

Schön war die Frau wie Mondnächte im Mai. Still und von vornehmer Blässe. Ein mühsam gezügeltes, wildes Temperament unter einer Haut, die zu berühren die äußersten Gefahren brachte. Sie war nicht wie sie schien, so sanft. Ihr Kuss nicht keusch: Wer ihn gekostet, der fühlte Glut in seinen Adern fließen und ein verzehrendes Verlangen.

Sie kam zur Beichte her, die Dame Capulet. Tat so, als käme sie, Sünde zu tilgen. Doch Sünde zu säen führte sie im Schild.

„Vater, ich bin Eure gehorsamste Tochter …“

„Steht auf, ich bitte Euch, und kniet nur vor Gott.“

Sie küsste meine Hand, sie weinte. Ich griff sie am Arm und zog sie empor. Ein Duft stieg auf von ihrer Brust, der in mir träumerisches Sehnen weckte, ein mir bis dahin unbekanntes, nicht zu benennendes Gefühl. Halb Lust, halb Weh, das  Ahnen einer Seligkeit, wie sie ein Gottesmann nicht spüren darf. Und tut er’s doch, so mischt sich ihm die süße Gier nach den verbot’nen Früchten bei und steigert sein Verlangen.

Sie beichtete, die Frischvermählte, dass sie dem Gatten nicht zu Willen sein könne, wie er es ihr gebot. Sein Lager habe sie geteilt, pflichtschuldig, in den Wochen nach der Hochzeit, wie es Brauch.

Schwanger sei sie nicht geworden, gegangen sei es ihr nach Art der Frauen, und jetzt verlange er, der Altersgeile, das Bett mit ihr zu teilen Nacht für Nacht. Er aber sei ihr widerlich, sein Atem unrein, fett sein Wanst und seine Haare grau. Mit groben Griffen drücke er sie nieder und achte nicht ihr lautes Wehgeschrei.

Wohl hatte ich gehört vom Schicksal dieser Braut, die ihrem Mann vom Vater übergeben ward wie eine Ware. Sie brachte frisches Geld und Hab und Gut, und er war stattlich noch, wenngleich im Alter fortgeschritten. In guten Händen glaubte sie ihr Vater, und Capulet versprach, sie zu umsorgen. Ich selber habe sie getraut, und sah den Stolz in seinen Augen auf diese junge Frau.

Ihre Blicke galten mir.

Dass die Mitgift reichlich ausfiel, verstärkte Capulets Ansehen in Verona. Und Ansehen braucht ein Handelsmann. Zumal die Feindschaft zwischen seiner und der Familie Montague in jüngster Zeit an Schärfe zugenommen. Seit Urgroßväterzeit befehden sich die beiden Sippen, und niemand wüsste mehr zu sagen, was der Anfang war. Aus Neid und Missgunst mochte Übelwollen geflossen sein und überschwemmte ihre Herzen.

Sie kniete also vor mir nieder abermals, die Dame Capulet, das Beichtstuhlgitter zwischen unsern Köpfen. Und wieder roch ich ihren Duft. Und hörte ihre Stimme. Und schloss die Augen. Und tat sie wieder auf. Und stellte mich auf beide Füße, es war ganz so, als führte mich ein Geist. 

„Pater – ?“

„Komm, Mädchen, komm, erhebe dich …“

Ich schob sie in die Sakristei. Ich schloss die Tür. Ihr weißer Leib war meine Hostie.

Es traf uns nicht der Blitz, als unser Stöhnen von den Kirchenwänden widerhallte. Wenngleich die Erde bebte, so empfand ich es. Ein Walten der Natur, ein heftiges, so ist es uns geschehen. Wie sie sich zärtlich von mir löste, meine Schöne, die Kleider überwarf, die seidenen, wie sie mir lächelnd eine Kusshand warf und leise durch die Tür entschlüpfte – es war der spitzeste von allen Schicksalspfeilen, der je sein Ziel in meinem Herzen fand.  

Sie hatte planvoll mich verführt, das Luder, es brauchte lange, eh ich es begriff. Noch hing die Sünde mir nicht an, noch sah ich mich als Werkzeug in den Händen meines Schöpfers. Ein paarmal kam sie in den nächsten Tagen, am frühen Morgen stets, suchte mich auf in meiner schlechten Hütte und ließ mich baden an den Stränden ihrer Lust.  

Sie sprach kein Wort und legte mir, wenn mir nach Sprechen war, die weiße Hand beschwichtigend auf meinen Mund.

War sie gegangen, blieb ich schwindelig zurück.

Zu Michaeli war’s, ein golden-warmer Tag, ich feierte die Messe, die Kirche voll besetzt. Sie kam den Mittelgang entlang, ihr väterlicher Gatte führte sie und hielt sich schützend eng an ihrer Seite. So viele Monde sah ich sie wohl nicht und sah sie jetzt – der Atem stockte mir. Ein Kleid von weitem Schnitt in zarten Farben, und doch war’s nicht zu überseh’n: Gewölbter Leib und still gesenkter Blick. Dem feisten Gatten stand ein Lächeln im Gesicht wie reingeschnitzt, als sei ihm just ein kühner Coup gelungen.

Ihr Plan war aufgegangen: Der alte Capulet, als feststand, dass er endlich Vater würde, wie er glaubte, ließ sein junges Weib gewähren. Kehrte zurück zu den Gespielinnen der frühen Jahre, reiste, ließ die Schwangere allein. Diese gönnte mir nicht eine Nachricht mehr, kein Zeichen ihrer Gunst, geschweige denn ein neuerliches Aug-in-Auge. Sie hatte ja, was sie gewollt: ein Kind und Ruhe vor dem Mann.

Sie war so jung! Noch keine siebzehn, da sie niederkam.

Wenige Tage nur nach der Geburt, Mariä Lichtmess war’s, schickte sie die Amme, mich zu bitten, ihr Neugeborenes zu segnen. Die Amme, ein geschwätzig Weib, geboren in Bologna, war vor Wochen selber Mutter geworden eines Knaben. Böse Zungen wollten wissen, dass es der alte Capulet gewesen, dem sie das Mutterglück zu danken hätte. Wie er denn überhaupt nicht eine Magd, nicht eine Köchin unter seinem Dach, sie mochte jung sein oder alt – verschonen konnte.

Ihre Herrin habe ein Mädchen zur Welt gebracht, verkündete die Amme, ein prachtvolles Wesen, machte große Gesten und viele Worte, um vom Hergang des Geschehens zu berichten. Von der Morgenröte bis zum Angelus habe es gebraucht, ehe das Wimmern des Kindes die Schreie der Mutter abgelöst. Nach kräftigem Beginn, sprach mir die Amme, habe der Fortgang der Geburt sehr auf sich warten lassen, sei dann mit Wucht und solcher Macht erfolgt, dass ihre Herrin wie unter Folter sich gewunden habe. Ihr Brüllen habe man im ganzen Haus vernehmen können. Es risse sie, schrie sie, wohl mitten durch, sie würde diesen Tag nicht überstehen.

„Was habt Ihr denn, Pater, Ihr seid ja ganz bleich?“

„Nichts, es ist gar nichts, was führt Euch hierher?“

Der Segen, sagte sie, der Segen, die Herrin bitte drum und wolle kommen mit dem Kind, sobald die Witterung nicht mehr so widrig. Die Taufe dann im Frühling, ein großes Fest mit allen Anverwandten, doch vorher noch der Segen.

Ich schwieg. Und sagte dann, sie möge kommen.

3.

Sie kam, die Dame Capulet, als erste Veilchenblüten sich an sonnigen Stellen in der Wiese zeigten. Noch immer mitgenommen vom Geburtsgeschehen, die schwarzen Augen wie staunend im blassen Gesicht. Die Amme trug das Kind.

„Geh, Amme, heim. Gib mir das Kind.“

„Dann wollt Ihr nicht, dass ich auf Euch hier warte?“

„Heim! Du hast es wohl gehört.“

Als sie verschwunden war – mehrfach noch drehte sie sich um zu uns, die wir im Kirchenschiffe standen-, legte die junge Mutter das Neugeborene mir in den Arm. Ein Wunder rief ich aus, ist’s nicht ein Wunder?!

„Und wie die kleinen Fäustchen sich bewegen, und sieh die zarte Haut der Wangen..“

„Dein Töchterchen, Lorenzo, Zweifel scheiden aus.“

Das log sie nicht, ich wusste es und sah es auch: Die Kleine trug die Züge meiner Mutter selig.

„Wie nennst du sie?“

„Gib du ihr einen Namen!“

Im Angedenken an die Frau, die mich gebar, schlug ich den Namen Julia ihr vor. Sie nickte, sah das Kind an und dann mich, als wollte sie die Ähnlichkeiten überprüfen. Nahm mir die Tochter wieder aus dem Arm, dabei den kleinen Kopf sorgfältig stützend.

„Komm, Julia, der Segen ist erteilt.“

4.

Kurz war der Brief an meinen Bischof. Kurz und knapp.

Ich könne nicht mehr Priester sein, mein Amt nicht mehr erfüllen. Ich sei in Sünde gefallen und wolle Buße tun für den Rest meiner Tage. Als frommer Mann in meiner Klause leben, helfen, wo Hilfe gebraucht, gehen, wohin ich gerufen werde. Meine Tür stets offen halten, für die, die meinem Rat zu folgen sich nicht zu schade sind. Lange hört‘ ich nichts vom Bischof, dann bestellte er mich ein.

„Ich freue mich, dich hier zu sehen, mein Sohn.“

„Vater, ich bin‘s nicht wehrt Euch hier die Zeit zu stehen.“

Ich küsste seinen Ring, er hieß mich niedersetzen. Und stellte einen Becher Wein bereit.

„Es will mir nicht gefallen, was du schreibst.“

Mein fragend scheuer Blick in sein Gesicht, das übergossen war von einem Lächeln. Ausführlich pries er meine Wesensart, und die Verdienste, die ich seiner Meinung nach erworben. Beliebt sei ich bei Alt und Jung, nur gute Kunde käme ihm zu Ohren. Warum denn ich, der so erfolgreich sei im Amt, ein freudiger Diener des Herrn, mich selber degradieren wolle und strafen für die Sünde, die doch ganz offenbar gar niemandem geschadet?

„Niemandem geschadet …“

„Niemandem!“

Als Echo hängt das Wort noch immer mir im Ohr.

Geschadet, das wohl nicht, so stammelte ich dann, und er, den prüfend‘ Blick auf mich gerichtet, erzählt mir von der Vielgestalt der Liebe, die sogar dann, wenn Gott allein sie gelte, den Weg auch finde in des Eros Reich. Ein Gott auch er, der Eros, sprach der Bischof. Und Herzensfänger sei Cupido und mache nicht vor Priesterherzen halt. Es müsst mich doch nicht bekümmern, wenn mich der Liebe Pfeil getroffen hätt‘. Der Papst selbst sei vor Anfechtung nicht frei. Ein schwacher Mensch – auch auf dem Stuhle Petri. Das möge mir beweisen, wie groß die Güte sei von Mutter Kirche.

Ob er denn auch … so wagte ich zu fragen –

„Habt denn auch Ihr …“

Er hob die Brauen, lächelte und nickte.

„In Jugendzeiten, du verstehst.“

Ein Mädchen sei’s gewesen, hob er an und kräuselte die weichen Lippen, die ganz und gar nicht in die Ordnung passte. Schön und gescheit, und willens nicht, den Mann zu nehmen, den die Eltern für sie ausgesucht. Sie habe ihn gebeten, ihn, den Mönch, ihr das zu sein, was sie sich wünschte: Liebe ohne eheliche Bande und Lust, die nicht nach Dauer strebt.

Abrupt stellt‘ ich den Becher Wein zurück aufs Holz. Nein, wollt ich rufen, Vater, nein, Ihr legt es Euch zurecht, wie Ihr es braucht. Lust ohne Dauer, das war Euer Wunsch, und das Gedächtnis spielt Euch einen Streich. Ich sagte nichts dergleichen, stand nur auf und bat, mich so zu nehmen, wie ich sei. Ich fühle mich als Sünder und wolle Buße tun auf die beschrieb’ne Art.

Das Amt – da werde sich ein anderer finden lassen.

5.

Ich hatte eine letzte Handlung zugesagt in meinem Priesteramt – die Taufe eines Knaben. Er sei bereits drei Jahre alt, beschrieb ihn mir der Diener, doch habe er bisher nur eine Nottaufe empfangen, in der Stunde der Geburt. Blau angelaufen sei der kleine Montague gewesen und hatte kaum geatmet. Ein zartes Kind noch immer, aber doch inzwischen angekommen auf Seiten derer, die das Leben lieben. Die Eltern wünschten eine schöne Feier, mir Kerzenschein und viel Musik.

Welchen Namen er denn trage, fragte ich.

„Der Name also?“

„Der Name Romeo, in der Familie noch nicht vorgekommen, einzig in ganz Verona.“

Ich nickte, ich schreib mir dieses Fest am nächsten Sonntagvormittag in meinen Kopf. Und war mir sehr bewusst – bis dahin und nicht weiter.

6.

Die Taufe ist mir feierlich geraten, Vater und Mutter Montague gerührt zu Tränen, und auch der Knabe selbst – ein zartes Kind fürwahr – hörte mir zu mit off‘nem Mund für eine volle halbe Stunde ohne Ungeduld.

Ich feierte mehr als die Taufe, ich feierte den Abschied von dem Amt. Mit Sorgfalt legt‘ ich alle Messgewänder nieder, als die Familie gegangen war, berührte noch ein letztes Mal den Kelch und lenkte dann den Schritt zu meiner Klause. Ein Mönchsgewand, ein derbes, braunes, war meine Kleidung jetzt. Die Kutte mochte allen, die mich trafen, sagen: Der hier lebt Armut, Keuschheit – und gehorcht sich selbst.

7.

Gewiss, die Menschen liebten mich und lieben mich noch immer, darf ich sagen.   

Der neue Priester feierte die Messe, er segnete, er nahm die Beichte ab, ganz wie es seine Pflicht – doch das Vertrauen all der Schutzbefohlenen gehörte mir. Mir klagten sie ihr Leid und teilten ihre Freude, sie holten Rat sich ein, wenn Streit zu schlichten war, und dank des Kräuterwissens sah’n sie mich als ihren Arzt. Kamille bei Schmerzen des Leibes und Salbei bei Husten. Nelke bei Zahnweh und wenn das Herz sich übel reget – Fingerhut. In allerkleinster Menge.

Der Zwist der Capulets und der Familie Montague fand unterdessen neue Nahrung. Die jungen Burschen auf beiden Seiten warfen einander böse Blicke zu, dann Worte, dann zogen sie den Dolch. Mehr als einmal musste ich heilende Salben auf Wunden streichen, dabei sehr achten, dass keine Partei von meiner Hilfe für die andere erfuhr.

Die Dame Capulet sah ich höchst selten. Von weitem allenfalls und mit der Amme. Das Töchterchen in fünfzehn Jahren nur ein einzig Mal! Sie ging mit ihrer Amme in die Messe, ein Mädchen damals, sieben Lenze alt.

Ob die Erinnerung mir Scherze treibt, ob es wirklich so gewesen – mir will es scheinen, als sei die Wiederbegegnung mit dem Täufling Romeo, er war inzwischen zehn, in jene Zeit gefallen, da ich Julia gesehen mit der Amme.

Markt in Verona, ich bot den Händlern frische Kräuter zum Verkauf aus meinem Garten, wie ich es öfter tat. Plötzlich Tumult, Geschrei und Rennerei. Kleine Jungen bewarfen sich mit Walnussschalen und mit Äpfeln. Den einen griff ich mir, die anderen schickt‘ ich fort.

„Wie heißt du, Junge?“

„Romeo …“

Der Montague, ich hatte es geahnt. Ich fragte nach dem Grund für diesen Streit. Er wiegte nur den Kopf, dann weinte er und schmiegte sich in meine Kutte.

„Was ist dir, Romeo?“

„Sie sagen, meine Eltern sind Betrüger, nicht wert, in dieser Stadt zu leben.“

Ich hockt‘ mich hin vor ihn, nahm ihm, da er es zu verstecken suchte, die Arme vom Gesicht, gab ihm ein Tuch, zu trocknen seine Tränen. Du weißt dass das nicht richtig ist, so sagt ich ihm, ich weiß es auch: Du hast die besten Eltern von der Welt.

„Ich bringe dich jetzt heim, es wird dann niemand wagen, dir Schlimmes anzutun in dieser Stadt.“

So ward das Band der Freundschaft zwischen uns geknüpft, und Romeo kam immer öfter mich zu sprechen. Die Eltern und das ganze Haus der Montagues sahen es gern, denn ich, so dachten sie, ich wirke mildernd auf das heiße Temperament des jungen Mannes.  

Ein Feuerkopf war Romeo, ein heftiger Verfechter seiner Meinung, ein Träumer auch, so lebhaft wie phantastisch. Im fünfzehnten Jahr die erste Liebe, er wusste kaum sich noch zu lassen.

„Denkt Euch. Lorenzo, Pater! Die schönste Frau heißt Rosalind!“

Ich lachte still in mich hinein, verhieß ihm, dass noch andre kommen werden und dass die Liebe Tiefe brauche und eine Reife, die er in seinen Jahren noch nicht hat. Er schlug es in den Wind, was sonst, und doch, ich spürte es, die Worte, die aus meinem Munde kamen, waren für ihn ein kostbares Geschenk. Nicht immer folgt er meinem Rat, doch blieb so manches von dem hängen, was ich ihm anvertraut‘ im Lauf der Zeit.            

8.

Recht viele Winter gingen hin, vom Frühling milde abgelöst. Keiner kam häufiger mit mir zu sprechen als eben er, als Romeo. Mir war es Glück, dass er mich, der ich vom Alter her ganz leicht sein Vater hätte sein können, zu seinem Freunde machte. Es zeigte sich an ihm, wie sich die Kindheitsschlacken zügig lösten, wohl über Nacht, so kam‘s mir vor.

Ein Jüngling, schön und stark war Romeo geworden, feingliedrig noch und kräftig doch zugleich. Ausdauer war sein großes Plus, beim Schwimmen tat’s ihm keiner gleich, und Fechten war ihm eine Leidenschaft. Ich sah es mit Besorgnis, denn Übung im Kampf mit Waffen barg Gefahr, gerade weil Veronas Mauern vom Familienzwiste widerhallten. Ich wollte sein Vertrauen nicht verlieren, drum mahnte ich ihn nicht, mir schien’s der falsche Weg. Doch betete ich oft, er möge der Versuchung widerstehen, in andern Menschen bloß den Feind zu sehen.

Mitmensch sei doch ein jeder, sagte ich, wir hätten eine Pflicht: einander aus der Patsche helfen und nicht zu zürnen und zu kämpfen nicht.

„Doch wenn der andere dir übel will?“

„Sieh drüber weg, und lass sie dir nicht nehmen, die Gelassenheit.“

Wir sprachen viel von Recht und Unrecht, von Weisheit auch und tugendhaftem Leben.

„Doch wenn ich, um das Recht zu schützen, dem Widersacher mich entgegenstelle?“

Tu es mir Worten, antwortete ich ihm. Womöglich sieht er’s ein, sein Fehlen, und kann‘s nicht, wenn du ihm mit Gewalt die Chance nimmst.

Mit Worten … er lachte grimmig auf, der junge Mann und ließ die Hand durch seine Haarpracht gleiten. Er hatte ein prophetisches Gemüt, mein Romeo. Wild muss das Leben sein, sprach er, und frei von fader Vorsicht. Er sterbe jung, verkündete er mir. Ich hielt’s für eine Grille seiner Jugend.

Ich weiß nicht mehr, wie oft er mir von Liebe sprach in jener Zeit. Liebe zu Graziella und zu Marinella, er schwärmte, wie es seinen Jahren angemessen, und säumt nicht, die Mädchen zu beschreiben, so wie ein Gärtner es mit seinen Pflanzen tut.

9.

Vom Plan der Capulets sprach ich ihm nicht. Doch sprach die ganze Stadt davon. Der alte Capulet und seine junge Frau schickten sich an, ein großes Fest zu geben für die ganze Sippe, Freunde von nah und fern zu laden und auch zu sparen nicht an Lustbarkeiten und an Tafelfreuden.

Was es zu feiern gab, vergaß ich wieder, vielleicht galt’s nur zu zeigen, wer man war. Gehört hab ich, was alle hörten, dass Gaukler und Jongleure selbst gebeten waren, an diesem Abend ihre Kunst zu zeigen. Musiker auch, die Flöten und die Geigen, Tänzer und Spieler, Akrobaten, Zukunftsdeuter und die besten Köche.

Mein Töchterchen war gerade fünfzehn Jahre alt, da dies geschah, vielleicht war’s ihr zu Ehren, wer will’s wissen? Ich jedenfalls, zu ihrem Wiegenfeste, stellt‘ eine Kerze auf, die brannte dann den ganzen Tag. Romeo hat einmal mich gefragt danach. Ich sprach ihm drauf von Julia, von meiner Mutter, die ich wenig nur gekannt und sehr vermisst. Sie starb im Kindbett, sie gebar ihr viertes Kind, und ich war keine sieben Jahre alt.

10.

Es war ein Frühlingmorgen voller Licht und Düfte, als ich ihn kommen sah den steilen Weg hinauf zu meiner Klause.

„Lorenzo, denkt Euch nur …“

Er rief es schon von weitem. Kaum dass er Atem fand, als er mich dann erreichte. Ich hieß ihn niedersetzen erst einmal, nachdem er mich umarmt, er wurde still und rang nach Luft noch immer, so aufgewühlt war sein Gemüt. Ich gab ihm Wasser und ein Stück vom groben Brote, er hatte keinen Schlaf gefunden eine ganze Nacht. 

„Denkt Euch, Lorenzo, denkt Euch nur …“

Ich hatte keine Ahnung, was er meinte, und sah in seinen Augen eine Glut, wie ich sie nie zuvor geseh’n in dem vertrauten Antlitz. Er sprach den Namen leise aus als erstes, ganz tonlos formten seine Lippen die drei Silben, und ich verstand auf Anhieb, was passiert sein musste.

„Julia …“

Ganz langsam nur bracht ich es Stück für Stück aus ihm heraus.

Sie waren, Romeo und seine Vettern, zu fünft die hohe Mauer hochgeklettert, die den Palast der Capulets umgab. Sie hatten sich gemischt unter die Gäste, ein Glas getrunken und von den Speisen wohl probiert. Ein Zukunftsdeuter habe seine Hand genommen, erzählte Romeo, und habe leis gepfiffen durch die Zähne. Liebe, habe er geseufzt, so übergroß, dass es in Worte nicht zu fassen sei. Brennend, verzehrend, keinen Ausweg duldend. Gelacht hat da der junge Mann im Kreis der Vettern und in den Wind geschlagen, wie er’s immer tut.

Er sei gewandert dann durch alle Räume, ohne die Vettern, die sich verloren bald im Strom der Gäste. In einem Raum allein am Fenster sah er sie. Als er hereintrat, drehte sie sich um. Und wie im Traum berührten ihre Hände sich. 

„Zwei Pilger, neigen meine Lippen sich, den herben Druck im Kusse zu versüßen.“

„Der Heil’gen Rechte darf Berührung dulden, und Hand in Hand ist frommer Pilger Kuss.“

„Oh, so vergönne, teure Heil’ge nun, dass auch die Lippen wie die Hände tun.“

„Du weißt, ein Heil’ger pflegt sich nicht zu regen, auch wenn er eine Bitte zugesteht.“

„So reg dich, Holde, nicht, wie Heil’ge pflegen, derweil mein Mund sich nimmt, was er erfleht.“

„Ihr küsst recht comme il faut.“

Er habe sich im Park verborgen, sagte Romeo, später, als das Fest verrauscht, sich gar nicht trennen können von dem Ort. Und wirklich, plötzlich trat sie dann im hellen Schein des Mondes auf den Balkon hinaus.

Du sprichst von Julia? warf ich an dieser Stelle ein. Gewiss, wer sonst, sprach er, als gäb‘ es keine Frauen außer ihr. Sie ist die Lieblichste, die Schönste unter Schönen, die Sanfteste, die gleichwohl sehr genau weiß, was sie will!

„So sehr ich dein mich freue, freu ich mich nicht des Bunde dieser Nacht.“       

„Oh wär ich Fried und Schlaf und ruht‘ in solcher Lust!“

Mir traten Tränen in die Augen, als er fortfuhr. Sie haben sich ihr Lieben eingestanden, alle beide, und Treue bis ins Grab. Die Feindschaft beider Häuser hob sich auf in diesem Schwur.

„Ihr müsst uns trauen, Pater, besser gleich als später.“

„Ich führ die Ämter nicht mehr aus, du weißt es wohl.“

Er wischt es weg mit einer Handbewegung. Es soll ein Bund doch sein vor Gott, sprach er, nur ihr allein könnt ihn besiegeln.    

11.

War je ein Glück vollkommener als dieses? Ich sann noch lange drüber nach als er gegangen war. Zwei Kinder aus verfeindeten Familien – sie könnten Frieden bringen dieser Stadt. Und aneinander finden, was ein Mensch im anderen Menschen finden kann. Dass diese beiden – für mich die Liebsten unter Gottes Sonne – nun füreinander leben wollten, glich einer Zaubertat des Himmels.

Es war das denkbar Beste, was passieren konnte! Ich schwelgte eine Nacht in meinem Glück und dankte Gott und dachte: Welch ein Zauber!

Dann war’s vorbei in einem Augenblick.

Doch will ich peu à peu erzählen, wie es kam.

Am nächsten Tag, die Sonne stand schon hoch, sah ich ihn wieder kommen durch die Wiesen. Ein anderer war Romeo geworden. Er warf sich mir verzweifelt in die Arme, wie er’s zuletzt getan als Kind. Hin, alles hin, er flüsterte es matt. Was ist es, Junge, fragt‘ ich ihn, ich konnt’s nicht fassen. Der Tybalt, ich erschlug ihn, war die Antwort. Er hatte ihn getroffen in der Stadt, den Capulet, der ihm im Alter sehr voraus. Er hatte ihn beschimpft, Tybalt den Romeo, in welchem er den Eindringling erkannt vom Fest.

 „Beim Tanze frech sich aufzudrängen, was Lust ihm macht, soll bitter Lohn ihm bringen.“

Er habe schon den Degen in der Faust gehabt, berichtete mir Romeo, und einer von dem Tross, der mit ihm war, hat ihm dann, Romeo, dem Unbewaffneten, den Degen zugeworfen: So wehr‘ dich, Montague, wenn du’s vermagst.

„Der Hass, den ich dir schwur, gönnt einen Gruß dir nur: Du bist ein Schurke.“

„Nun flieh gen Himmel, schonungsreiche Milde, entflammte Wut sei meine Führerin.“

„Elender Knab‘ …“  (Ein tödlicher Stoß)

„Weh mir, ich Narr des Glücks.“

Die Ordnungsmänner arretierten Romeo und brachten ihn vor seinen Fürsten.

„Ich bin verbannt aus dieser Stadt, Lorenzo, muss morgen früh beim Hahnenschrei verschwunden sein. Der Fürst schickt mich nach Mantua.“

So sei getrost, sprach ich, die Strafe könnte härter sein: auf Todschlag könnte Tod auch stehen, du weißt es wohl. Und Mantua ist doch nicht weit!

Nicht weit …! Er schlug sich an die Stirn. Nicht weit, wenn die Geliebte hier verweilen muss!

„Ich kann nicht gehen. Ich ertrag es nicht.“

Du musst, sprach ich, sonst wird der Feind auf Rache sinnen. Es ist zu deinem eigenen Schutz. Er sah mich lange an. Dann seufzte er, glitt nieder auf die Knie und flehte, dass ich sie segnen möge heute noch, ihn und die Braut. Der Bund vor Gott, er muss geschlossen sein, sprach Romeo, bevor ich weiche.

Nun gut. Ich war bereit, den Willen ihm zu tun.

„Geh, lauf zu ihrer Amme, die mag sie bringen, wenn es dämmrig wird.“

Er lächelte jetzt unter Tränen und küsste mich auf beide Wangen.

12.

Wie sie dann beide vor mir standen, Romeo achtzehn, Julia fünfzehn Jahre alt – die Rührung nimmt mir immer noch den Atem. Das schönste Paar, das je die Sonne sah.

Sie schlank und zart und wohl gestaltet, die langen Haare schwarz wie Schiefer, die Augen dunkel und wie Mandelkern geformt. Bei ihm die blonden Locken bis zur Schulter, und männlich-trotzig war sein Blick.

Juliens Anblick, als die Amme sie mir abends brachte, war mir ein tiefes Weh in meiner Brust. Ich konnt‘ nicht länger stehen bleiben, musste mich niedersetzten auf die Schwelle. Die schöne Julia war ihrer Mutter ähnlich wie ein Zwilling. Und dass mein Sündigen die eine, feine Frucht getragen, schien mir Verzeihung und Begnadigung und Glück! Wie war sie schön! Und grade in dem Alter, das ihre Mutter hatte, als sie mich betört.    

Als ich den Segen sprach, da weinte Julia, fiel in die Arme Romeos und schluchzte wild. Ich ließ ihnen die Klause für die eine Nacht, die noch verblieb, bevor der Bannspruch galt. Ich für mich selbst kannte ein schönes Plätzchen, mich zu bergen: Die Sakristei, wo Juliens Mutter mich verführt dereinst. Die Seitentür der Kirche San Petronio, ich wusst‘ es wohl, stand immer offen.

Ich sah ihn später nicht mehr, meinen Romeo. Ich malte sie mir aus, die erste Nacht der beiden Kinder, die auch die letzte würde sein.

„Es war die Nachtigall und nicht die Lerche, die eben jetzt dein banges Ohr durchdrang.“

„Die Lerche war’s, die Tagverkünderin, die Nacht hat ihre Kerzen ausgebrannt.

Der muntre Tag erklimmt die dunst’gen Höh‘n, nur Eile rettet mich, Verzug ist Tod.“

13.  

Als ich am Morgen wiederkehrte, traf ich die Amme an vor meiner Tür. Die Tochter Julia, besorgt und glücklich wohl zugleich, war Heim gegangen schon.

Welch ein Betrüben, rief die Amme aus, welch herber Schicksalsschlag. Denkt Euch, Lorenzo, Vater Capulet verhandelt grade mit dem Grafen Paris.

Wie das? Frug ich, und sie, die Hände ringend, gab mir Antwort: Der Graf geht wohl auf Freiersfüßen, und freien wollt‘ er Julien! Der Vater sei geneigt, sie ihm zu geben. Das war mir klar, der alte Schacherer. Er selbst um frischen Geldes willen und um den geilen Mut zu kühlen, freite einst um Julias Mutter. Und nahm sie freudig aus des Vaters Händen. Die Tochter nun, von der er glaubte, er habe sie gezeugt, war ihm ein gleicher Spielball in der Hand. Graf Paris galt in ganz Verona als ein Ehrenmann, und Geld und Hab und Gut besaß er auch.

Es wird das Herz ihr brechen, meiner Kleinen, rief die Amme, sprich Pater, weißt du keinen Rat?

Sag ihr, sie soll nicht widerspenstig sein, so riet ich ihr, während mein Hirn an einer Lösung wirkte. Sie soll zum Schein drauf eingeh’n, auf die Heirat, inzwischen suchen wir nach einem Weg. Versucht‘s nur raus zu zögern das Ereignis, bringt Gründe vor, die Hochzeit aufzuschieben. Lasst sie noch Trauer tragen um den Vetter Tybalt! Gebt vor, dass ihr des Frühlings hohe Blüte abwarten wollt um jeden Preis.

Die Amme ging. Ich bat sie, Julia beizustehen, wo sie nur konnte. Am Abend vor der Hochzeit möge sie das Kind hierher begleiten.

Ich wüsste dann schon Rat.

14.

Nicht viele Male ging die Sonne unter, bevor die Amme klopft‘ an meine Tür.  

„Ich bring sie Euch, hier ist es, das verweinte, liebe Kind …“

„Geh Amme, geh hinaus und komme wieder, sobald die Glocke läutet von San Antimo.“

Sie ging. Ich setzte Julia mir gegenüber. Beruhige dich, sprach ich, es gibt ein Mittel, ein bewährtes.

„Gern will ich alles tun, was Ihr mir ratet, Pater.“

„Mut braucht es, das vor allem, und Vertrauen.“

„Ruft Ihr es in mir auf, so hab ich beides.“

„So sprichst du recht, mein Kind.“

Ruhig und mit Bedacht, so nahm ich ihre Hände, wie kleine Vögel, in die meinen. Hör ganz genau mir zu, so sagte ich. Ich habe einen Trank, der senkt die Lebenskräfte ab für eine Zeit. Er tötet nicht, da musst du nichts befürchten. Am späten Abend eingenommen, wenn du just zu Bette gehst, wachst du erst auf, sobald die Sonne wieder untergeht. Am Morgen aber wird für tot dich halten, wer immer an dein Lager tritt.

„Ich will es tun, Lorenzo, gebt es her, das Fläschchen …“

Du trinkst es aus in einem Rutsch, sprach ich, du trinkst drei Schlucke Wasser nach und legst dich nieder. Zuvor das Fläschchen birgst du zwischen deinen Kleidern. Ich gab ihr dann den Trank, ein Glasfläschchen so klein, dass sie es in der Hand verstecken konnte.

Sie werden dich, von tiefem Schock gerührt, in ein Gewölbe tragen, das als Erbgruft gilt der Capulets. Ein dunkler Ort, ein feuchter auch, nicht angenehm. Es wäre möglich, dass du dort allein erwachst. Ich will das meine tun, es zu verhindern. Ich schicke einen Boten jetzt zu deinem Mann, zu Romeo nach Mantua. Wenn alles so gerät, wie ich es plane, wird dieser dann an deiner Bahre steh’n, wenn du erwachst, und dich mit Küssen überfluten.

Sie ging, die schwarzen Augen schreckgeweitet und doch entschlossen, an der Amme Arm.

15.

Was sich ereignet noch in jener Nacht, am nächsten Morgen auch, die Amme sprach mir später noch davon. Ich suchte Bruder Giacomo zu finden, schickt ihn nach Mantua, wohin er öfter reiste, gab ihm ein Briefchen mit für Romeo, worin ich sauber alles aufgeschrieben. Wär ich nur selber hingegangen!

Am nächsten Abend hielt mich nichts mehr in der Hütte. Ich wollte eilen hin zum Gruftgewölbe, ich hatt‘ ein dunkles Ahnen in der Brust. Doch kaum stand ich vor meiner Hütte, da rief mich Giacomo:

„He, höre …“

Er war nicht angekommen, nicht in Mantua, er hielt den Brief für Romeo noch in der Hand. Die Straßen warn versperrt nach Mantua, er kam nicht durch, von Seuchen war die Rede. Er musste umkehren, es war vertrackt.

Ich eilte hin zur Gruft, so schnell mich meine Füße trugen, ich wusste nicht mehr, was ich denken sollte. Als ich dann eintraf, war es längst zu spät. Ich sah die Leichen unsrer beiden Kinder, ich wusste, was geschehen war: Der Ruf, dass sie gestorben, hatte Romeo erreicht. Er hielt’s für bare Münze, war herbei geeilt und hatte sich an ihrer Bahre selbst erstochen. Als sie dann später aufgewacht, da sah sie ihn, sah ihn, den Freund, in seinem Blute liegen. Und hatte nicht gesäumt, die Mutige, den Stahl sich in die eigne Brust zu stoßen.

Ach, meine lieben Kinder!

Wie war das Herz mir schwer an diesem Tag. Das Haar ward grau in einer Nacht.

16.

Sie haben sich versöhnt, die streitenden Familien. So heißt es in den Schriften, die man liest. Am Anfang mag es wirklich so gewesen sein, ein Handschlag zwischen Capulet und Montague, ein Handschlag über ihrer Kinder Totenbett. Inzwischen kämpfen sie wie ehedem, um Macht, um Geld, um Fürstengunst. Es gibt Verwundete und Tote auch.

Ich sitze Jahr um Jahr und Tag um Tag in meiner Hütte, bestelle meinen Garten, ernte Kraut und Rübe, und hoffe, dass die Schuld vermindert werde. Dass ich sie mindern kann durch meiner Hände Werk. Ein Narr des Glücks auch ich. Der Tod, so bitter für die beiden Kinder, mir wird er süß erscheinen, mild und hold.

Wenn er nur endlich kommen wollte!

Doch weh, mein Leib … was wühlt ihn auf?

Sollt ich zu viel von jenem Trank … Was ist es, dass mir Pein bereitet?

Es mag die Strafe sein, die immer kommt, wenn ich Vergangenes heraufbeschwör‘. Doch muss ich‘s tun, es ist mein Leben, vergangenes Geschick, für mich ein Weh und Glück zugleich.

Jetzt find ich es: Ich glaub, ich habe Hunger!

Aus Akzente: Monologe 2/3 2024

Das Heft ist im Dittrich Verlag lieferbar

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