Die CD-Aufnahmen von Dichterliebe, Liederkreis und Winterreise mit der Stimme von Dietrich Fischer-Dieskau standen bei mir im Schrank, als ich ans humanistische Gymnasium ging. Ich hörte sie gern und viel. Manchmal summte ich die Melodie dazu, während ich meine Hausaufgaben machte. Der Sound der Romantik war mir vertraut, und das andächtige Hören der Forelle von Schubert in einem ehrwürdigen Saal mit Pianoforte gehörte zum »guten« Geschmack, war ein Ausweis »guter« Bildung. Gefühlsgeladen, herzzerreißend, wogenwallend. Zu der Zeit schien die Musik mit dem Chaos, das ich als Jugendliche empfand, auf einer Wellenlänge zu sein. Ja, sie ist wunderschön. Doch sie bekommt schnell etwas Bedrohliches, wenn sie in erstarrten Ritualen und ungebrochenen Performances verharrt. Bedrohlich, weil sie den Anschein vermittelt, es sei alles immer beim Alten. Es habe sich nichts bewegt. Es gebe daneben nichts anderes. Und falls doch, benötige man sie, um sich daran festzuhalten. Wie ein Lattenzaun, den man immer mit sich führt und aufstellt, damit sich die Textur der Umgebung nicht verändert.
Als ich die Liedzyklen wieder hervorholte, um sie für eine Veranstaltung unter dem Aspekt der Radikalen Verletzbarkeit zu lesen, schrieb ich mir auf einen Zettel die Namen und Lebensdaten der Komponisten und Dichter. Fast alle waren Ende des 18. Jahrhunderts geboren. Also hatten sie einander wahrscheinlich gut gekannt und ihre Werke gegenseitig rezipiert. Als ich mich auf die Suche nach einer Frau begab, kam ich schnell auf Clara Schumann, na klar, die Ehefrau von Robert. Die eigentlich nie für sich steht, sondern immer im Doppelpack mit ihrem Mann genannt wird. Von einer lieben Freundin bekam ich außerdem den Tipp, doch mal bei Annette von Droste-Hülshoff zu schauen. Eine Dichterin war sie, das wusste ich, nicht aber, dass sie selbst auch komponiert hatte. Eine Dichterin und Komponistin! Auch sie ist Ende des 18. Jahrhunderts geboren. Doch ist es leider gar nicht leicht, Aufnahmen ihrer Lyrikvertonungen zu finden.
Die Frauenliebe vom Boys-Duo Chamisso-Schumann stellt sich das Leben einer Frau vor, das Annette von Droste-Hülshoff nicht lebte. Das Bild der treuen Ehefrau und Mutter, die ihren geliebten Ehemann und Vater ihrer Kinder anbetet, zieht sich durch die Texte der romantischen Lieder. Auf der anderen Seite steht der von Schmerz und Gram gepeinigte und sich nach seiner Geliebten verzehrende Liebhaber, der sie als kaltherzig, schlangenartig und verbittert beschreibt, sollte sie ihn ablehnen. Sicher, auch für heutige Popmusik gilt, dass man den Text beim Hören manchmal lieber ausblendet.
Wie lässt sich mit den Texten arbeiten? Gibt es Formen der Umkehrung, Kippmomente? Was passiert eigentlich, wenn eine Sängerin die Winterreise singt? Ich träumte von Lieb um Liebe, Von einer schönen Maid, / Von Herzen und von Küssen, Von Wonne und Seligkeit. Wird das Lied dann zu einem homoerotischen Text? Und liegt diese ganz andere Lesart allein an dem Körper und der Stimme der Sängerin? Als erste Sopranistin nahm Lotte Lehmann die Winterreise auf. Zu dem Zeitpunkt lebte sie im amerikanischen Exil, zusammen mit ihrer Gefährtin. Nach wie vor scheint es zu Irritationen zu führen, wenn eine ungewohnte Stimme die Lieder singt. Andersherum geht es ja oft soweit, dass Liedtexte im Geschlecht verändert werden, damit sich bei ihrer Darbietung bloß kein Homo-Verdacht einstellt. Ich will aber auf der Bühne und überhaupt mehr Homoerotik! Gerade die Kunstlieder könnten doch irgendwie camp sein … Und wer weiß, wen sie im Verborgenen eigentlich besangen … Noch in Gedanken bei dieser Vorstellung, schlug mir meine Playlist den Song Jolene von Dolly Parten vor. Darin singt sie als lyrisches Ich die Bitte, dass die schöne Jolene ihr nicht ihren Mann wegnehmen möge. Jack White singt dreißig Jahre später dieselbe Version und gibt dem Song damit eine neue Deutung. Denn mit Jolene, Jolene, please don’t take my man, even though you can verweist er durch seine Stimme auf ein anderes Beziehungsgefüge. Der Text ist nie getrennt von seiner Autor:in, und die Autor:in nie von ihrem Text. Doch die Performer:in kann den Text mit ihrem Körper verändern.
Unterwegs kam ich zur Loreley. Sie, unerreichbar, schön, jungfräulich, stürzt sämtliche Männer ins Verderben und ist eine Erfindung der Romantik. Brentano soll sie geschaffen haben. Wie Frankensteins Monster oder Hoffmanns Olimpia ist sie zusammengebaut. Allerdings nicht aus Leichenstücken oder mechanischen Teilen, sondern aus verschiedenen mythischen Figuren. Die Sirenen, Echo und Medusaleihen der Loreley ihre Körperteile und machen sie zu einem gefürchteten Dilemma. Sie ist so schön, dass Männer sich ihr nähern wollen, aber nähern sie sich ihr tatsächlich und blicken sie an, müssen sie sterben. Aus Unglück darüber und aus Liebeskummer möchte die Loreley selbst sterben. Schuldbewusst. Beim Lesen möchte ich mir die Haare raufen und gleich zu Sylvia Plath weiterblättern: My consuming interest in men and their lives is often misconstrued as a desire to seduce them, or as an invitation to intimacy. Yet, God, Iwant to talk to everybody I can as deeply as I can. I want to be able to sleep in an open field, to travel west, to walk freely at night Was, wenn die Monstrosität der Loreley allein aus dem ihr zugeworfenen Blick entstünde, nur abhinge vom Betrachter? Und sie verdammt noch mal nicht sich selbst für diese Blicke bestrafen würde? In einer möglichen Perspektivumkehr würde ihr Gesang nicht anlocken, um ins Verderben zu stürzen, sondern nach Verbündung rufen, nach einer sisterhood. Darin ist der Gesang jedoch keine Hymne, nein, bitte, bloß keine Hymne.
Ist die Romantik eine Zeit der Radikalen Verletzbarkeit? Sie ist gefühlsbestimmt, zeigt Schmerz und Kummer, legt wunde Stellen offen und wird von einem lyrischen Ich getragen, das seine Empfindsamkeit und Sterblichkeit zur Schau trägt. Doch scheint in ihrem Pathos eine derartige Überhöhung zu liegen, dass es zwischen dem lyrischen Ich und der Autor:in eine Distanz schafft. Das romantische Pathos zoomt das schreibende Ich raus, während die Confessional Poets es sehr nah ranzoomen. Die raue Brutalität von Scham und das von Narben hart gewordene Gewebe. Der verletzbare Körper. Seine leid- und lustvollen Erfahrungen, die untrennbar mit psychischen Zuständen verbunden sind. Sicher, es sind immer noch lyrische Bekenntnisse, die im literarischen Raum bleiben, anders als eine Beichte oder eine psychotherapeutische Sitzung. Sie sind dabei jedoch einem Tagebucheintrag sehr verwandt. Aribert Reimann vertonte sechs Gedichte von Sylvia Plath im Stil der Neuen Musik. Wie ihre Kollegin Anne Sexton nahm Sylvia Plath sich das Leben. Dar in liegt oft das ganze Wissen über die beiden Autorinnen. Doch allein diese Verknappung wird den Nuancen ihrer Texte nicht gerecht. Song for a Lady ist mein liebstes Gedicht von Anne Sexton, ein Liebeslied als Gedicht, das – so bilde ich mir ein – auch als erotische Szene zwischen zwei Frauen gelesen werden kann. Oh my swan, my drudge, my dear wooly rase/ even a notary would notarize our bed / as you knead me and I rise like bread.
Ab wann ist ein Liedtext Lyrik? Und wann Lyrik Gesang? Sind sie nicht spätestens seit Sappho miteinander verwoben, da sie ihre Lyrik auf der Lyra sang? So auch in den Werken der Rock-Ikone Patti Smith, die sich zunächst als Lyrikerin verstand. Und dabei wie Bob Dylan von den Confessional Poets als auch von der Dichtung Rimbauds beeinflusst ist. In Redondo Beach betrauert das lyrische Ich eine junge Frau, die sich im Meer ertränkt hat, und umschreibt Smiths Sorge um ihre eigene Schwester nach einem Streit. Bei Dylans Nobelpreisverleihung wiederum sang sie den von Rimbaud inspirierten Song A Hard Rain’s A-Gonna Fall. Es ist natürlich ein starkes Stück, dass Dylan selbst nicht aufgetaucht ist und stattdessen die Godmother of Punk höchstpersönlich schickte, um ihn zu vertreten. Doch vielleicht liegt in der Schnoddrigkeit dieser Geste mehr Bedeutung, als ihr zugestanden wird. Die Lyrikerin Patti Smith – ebenso wie Dylan immer wieder als »androgyn« bezeichnet – verkörperte den Song Dylans und nahm den Preis entgegen. Vielleicht sollte der Preis damit nicht nur ihm, dem einen, gelten, sondern einer ganzen Bewegung. Eine gelungene Punk Performance also im altehrwürdigen Saal. Denn viele andere, unter ihnen auch die große Joan Baez, hatten A Hard Rain’s A Gonna Fall in ihrer je eigenen Version gesungen. Und damit den lyrischen Text in seinen Bedeutungsebenen vervielfältigt.
Diese Recherchelandschaft basiert auf einem Gespräch mit Marie Heeschen und Claudia Chan und greift Impulse des Begriffs der Radikalen Verletzbarkeit von Lea Schneider auf.
Im Hintergrund rauschten drei meiner Gedichte, die ich hier als lyrische Coda aufführen möchte:
nicht schuppen hab ich und auch keine flammenhaut
kein stinkendes gebiss und keine fließenden abszesse
ich hab kein haar aus schlangen, keine kralle
die sich in die ohren einer talkshowrunde bohrt
mich sah noch niemand
mit verbranntem rücken und auch nicht mit hula hoop
kein gift hängt mir am hüftgurt, keine hundebeine
wenn ich nachts zum spätkauf geh
wüsst ich alle wünsche schon im voraus
wär ich mutter, so wie alle, algorithmus
meine dna gewächshaus. werf ich steine ins getreibe
nähern sich blaue sirenen, nicht, um licht zu heulen
oder autoraser anzulocken. sie nehmen mich mit
an den baggersee und bringen mir ihren gesang bei:
finde uns, auch in unterirdischen schächten
ich brauche keine schlangenhaut und auch keine zangen
keinen fischschwanz oder schwarze klauen
mir reicht ein wort von dir, ein augenschlag
wenn du mich anblickst und ein monster siehst
erstarre
Aus Akzente 01/22; das Heft ist im Dittrich Verlag lieferbar