In jedem Buch steckt viel vom Autor. In »Sophia oder Der Anfang aller Geschichten« hast du eine Geschichte erzählt, die du selbst nicht gelebt hast, die Rückkehr in die syrische Heimat. Wie viel Rafik Schami steckt in deinem aktuellen Roman »Die geheime Mission des Kardinals«?
Viel, weil ich als Kind in dieser Gesellschaft, die vom Aberglauben befallen ist, aufgewachsen bin. Du siehst, wie Nachbarn ein kleines Fläschchen mit ranzigem Olivenöl kaufen, das alle Wunden heilen und alle Familienprobleme lösen soll. Und du siehst, dass jeder Zweite mit einem Amulett herumläuft. Beim Schwimmen entdeckt man, dass Schüler ein Amulett gegen Neid tragen. Das hat mich immer begleitet. Ich habe nie ein Amulett getragen, aber ich weiß, dass jedes zweite Kind, vor allem die hübschen, einen kleinen blauen Stein gegen Neid trägt und dass in jedem Geschäft ein Neid-Auge hängt. Das ist Aberglaube, und darüber wollte ich einmal sehr spannend schreiben. Deswegen steckt so viel von mir in dem Roman.
In dem Buch schreibst du, dass der Aberglaube in zwei Arten von Gesellschaften eine besondere Rolle spielt: in den für unterentwickelt gehaltenen, armen Ländern und in den hochentwickelten Ländern mit ihren übersättigten Gesellschaften.
In Ländern wie Deutschland oder Italien oder Frankreich hätte man theoretisch gesehen einen Aberglauben nicht nötig. Man hat eine Krankenversicherung, eine Arbeitslosenversicherung, Staat und Kirche sind getrennt. Man hat alle Voraussetzungen, um vernünftig zu leben, aber durch die Übersättigung entsteht eine innere Leere. Man sucht nach Reizen, was zum Beispiel dazu führt, dass ein vernünftiger Europäer nach Indien geht, um dort Anhänger von einem Guru zu werden, zurückkommt und die Lehre Oshos predigt, der ein Gauner war. Das soll ein Heiliger sein, dem man folgt? So etwas kann man nur machen, wenn man eine Leere in der Seele empfindet.
1971 bist du nach Deutschland gekommen. Wie hast du das empfunden? Es gab damals sicherlich keine Willkommenskultur.
Es war wirklich schwierig. Das Resümee dessen habe ich in meinem Buch »Ich wollte nur Geschichten erzählen« aufgeschrieben. Der Titel ist ein bisschen ironisch gemeint: Ich wollte ja nur Geschichten erzählen, keine Politik machen … Es war nicht leicht: Du kommst in eine Gesellschaft, die dich nicht kennt und die deine Kultur nicht anerkennt. Du musst von Null anfangen. Manche Akademiker wussten noch nicht einmal, dass es Christen in den arabischen Ländern gibt. Wenn du sagtest, du bist Christ, kam die noch dümmlichere Frage: Wann wurdest du missioniert? Ich antwortete dann: Warum missioniert, wir haben das doch erfunden, wir haben euch das vor 2000 Jahren exportiert. Du musst mit der wahnsinnig strengen Ausländerbehörde kämpfen, die unglaublich unmenschlich gewesen ist. Bei jedem Anlass droht eine Ausweisung. Ich kam als Akademiker mit Aufenthaltserlaubnis, nicht als Asylbewerber und nicht als Geflüchteter, aber so kontrolliert zu werden ist nicht besonders schön. Da ich in einen Konflikt mit meiner Sippe geraten war, bin ich mittellos gekommen. Ich musste arbeiten und mein Geld am Fließband, auf Baustellen, in der Restaurantbedienung, mit Postaustragen verdienen. 1972 bediente ich im Olympiazentrum. Es ging alles glatt, bis diese Terroristen des »Schwarzen September« kamen. Alle arabischen Mitarbeiter wurden getrennt verhört und befragt, ob wir eine Beziehung zu diesen Leuten hätten. Noch schlimmer war allerdings der Vorwurf von Kollegen, nachdem ich vom Verhör zurückgekommen war: Ihr habt unsere Olympiade verdorben, kaputt gemacht. Plötzlich bist du in einer Position der dauernden Rechtfertigung. Aber die verschiedenen Arbeitsstellen verschafften mir zwei Vorteile: Erstens habe ich die Deutschen wirklich kennengelernt, richtig kennengelernt, in ihrer Freude und Trauer, in ihrem Alltag. Ich war nicht wie ein Akademiker, der, wattiert durch sein Stipendium, niemanden außer seinem Professor kennt. Ich bin wirklich in die Gesellschaft gegangen. zweitens hat mich die Arbeit endgültig von meiner Sippe befreit. Ich schrieb meinen Verwandten: Wer mich besucht, kommt zu meinen Bedingungen, nicht zu seinen. Ich lebe hier unverheiratet mit einer Frau unter einem Dach, und wer nicht will, der soll mich nicht besuchen. Nur dadurch, dass ich selbständig geworden war, konnte ich so etwas zum ersten Mal formulieren. Ich kenne Araber, die über Marx promoviert haben und sich durch die »Mutti« eine Ehefrau suchen lassen. Das ist die Herrschaft der Sippe.
Und wie bist du von diesen Hilfsarbeiterdiensten zu deinem Chemiestudium gekommen?
Ich habe das immer parallel gemacht, ich musste neben dem Studium arbeiten. Bedient habe ich unter der Woche, aber großes Geld habe ich in den Semesterferien auf Baustellen oder in den Metallfabriken verdient. Ich kannte keinen Urlaub. Sechs Jahre lang habe ich keinen Urlaub gemacht.
Und dann hast du nach einigen Jahren beschlossen, eine hart erarbeitete und gut bezahlte Stellung als Chemiker sausen zu lassen und Schriftsteller zu werden?
Ich hatte inzwischen meinen Doktortitel gemacht und im Nebenfach Pharmakologie studiert, und das war bei Pharmafirmen gesucht. Die Arbeit in der Pharmaindustrie war anspruchsvoll und deshalb musste ich meine Literatur vernachlässigen. Ich konnte nur noch am Wochenende an meinen Romanen und Erzählungen arbeiten. Ich litt gesundheitlich sehr darunter. Zwei Wassermelonen kann man nicht lange auf einer Hand balancieren. Nach ein paar Jahren fragte ich mich: Was machst du denn da? Wann willst du dich entscheiden? Dann habe ich mich entschieden, für die Schriftstellerei. Für die ersten Jahre hatte ich eine kleine Geldreserve, aber die hat nicht gereicht, denn ich blieb sechs, sieben Jahre ohne Erfolg. Deshalb nahm ich einen Job als Übersetzer vom Deutschen ins Arabische an und übersetzte technische Vorschriften, Beipackzettel, Maschinenteil-Beschreibungen oder Sicherheitsmaßnahmen auf der Baustelle für eine Versicherungsfirma. Damit habe ich gutes Geld verdient. Dann begann meine Literatur, etwas Erfolg zu haben, und meine Reisen, meine Auftritte, wurden immer beliebter. Damit konnte ich mich immer mehr finanzieren, selbständig, ohne Übersetzung.
Als du nach Deutschland gekommen bist, warst du bereits Mitte 20 und deine Muttersprache war Aramäisch, deine Kultursprache Arabisch. Wie schafft man es, so gut Deutsch zulernen, dass man sich nicht nur im Beruf verständigen, sondern sogar Schriftsteller werden kann?
Wenn ich ehrlich bin, wollte ich nie auf Deutsch schreiben. Ich wollte auf Arabisch schreiben, wie die Emigranten im 19. Jahrhundert, die nach Amerika emigriert sind und ihre arabische Literatur zurückgeschickt haben.
Und du hast hier nichts auf Arabisch geschrieben?
Ich habe zwei Romane mitgebracht, die ich schon in Damaskus fertig gestellt hatte. Dazu kleine, wundersame Geschichten, realistische Satiren. Die »Hand voller Sterne« und der »Erzähler der Nacht« waren fertig. Ich schickte sie an arabische Verleger, nicht ahnend, dass diese mit der Mafia, der Diktatur vernetzt sind. Wenn sie überhaupt antworteten, dann ablehnend: Sie sind Syrer, warum veröffentlichen Sie nicht in Syrien? – In Syrien konnte ich nicht veröffentlichen, ich war ja im Exil.
Sie wollten dich nicht veröffentlichen, weil du aus politischen Gründen Syrien verlassen hast?
Genau. Nach vielen verzweifelten Versuchen habe ich aufgegeben und gesagt, das geht nicht, du lebst in Deutschland, dein Publikum ist deutsch, deine Freunde sprechen Deutsch. Aber jetzt kam der Punkt, den du erwähnt hast: Alltagsdeutsch reicht nicht für die Literatur. Ich lernte das literarische Deutsch, indem ich ganze Romane, ganze Essays abschrieb. Ich habe die »Buddenbrooks« von Thomas Mann mit der Hand abgeschrieben und bei jedem Absatz angehalten und beobachtet, wie er die Szene beschreibt. Die Deutschen gebrauchen zum Beispiel nicht so gerne Adjektive, die arabische Sprache lebt von Adjektiven. Und wenn du die arabischen Adjektive Wort für Wort über setzt, klingt das sehr kitschig und überladen. Ich bewunderte die deutschen Autoren, wie sie eine Stimmung ohne Adjektive beschreiben konnten, das musste ich lernen. Deswegen bin ich auch ein Verfechter der Handschrift: Wenn man mit der Hand schreibt, bleibt alles viel länger im Kopf, das habe ich in der Praxis gelernt. Ich habe Heine abgeschrieben, Anna Seghers, meine Lieblingsautorin, sie hat ja im Exil gelebt, dann Brecht und Panizza. Und ich fühlte immer mehr Mut, direkt auf Deutsch zu schreiben. Gleich zu Anfang begriff ich, dass man mit 25 Jahren sein Deutsch wunderbar verbessern und poetisch werden lassen kann, aber es bleiben immer Fehler. Deswegen suchte ich per Anzeige eine Privatlektorin, die von Anfang an mit mir gearbeitet hat. Ich habe immer privat mit Lektoren gearbeitet, weil ich die Schönheit meiner Texte nicht durch kleine Fehler beschädigen und keinen Mitleidsbonus haben wollte.
Neben Arabisch und Deutsch sprichst du auch Aramäisch und verstehst Englisch und Französisch.
Deswegen war der Zugang zum Deutschen, als Sprache mit lateinischem Alphabet nach Englisch und Französisch, eigentlich sehr leicht. Die deutsche Sprache hat im Aufbau etwas fast mathematisch Logisches. Sie hat aber auch viele Fallgruben wie das dritte Geschlecht. Du siehst eine junge Frau und sie heißt das Mädchen und im Dativ wird sie maskulin … Und dazu die Vorsilben, die mich wahnsinnig gestört haben. Im Arabischen gibt es zum Beispiel für jede Bewegung mehrere Synonyme, eigene Verben: Welcher Gang ist das? – Ist es ein schneller, gibt es ein eigenes Verb, ist es ein langsamer, gibt es ein eigenes Verb. Im Deutschen gibt es ein einzelnes Verb, zum Beispiel kommen, und daraus kannst du das Einkommen machen, das mit kommen nichts zu tun hat, auskommen, das mit beidem nichts zu tun hat, entkommen etc. Eine Latte an Vorsilben, die immer eine andere Bedeutung verursachen. Gehen ist noch schlimmer: vergehen, entgehen, ausgehen usw. Das musste ich verinnerlichen, und beim Schreiben lernt man das schneller.
Und hat dann irgendwann in deinem Kopf das Deutsche das Arabische überlagert?
Ja, mit meiner Frau, mit meinem Sohn, mit Kollegen, bei den Lesungen spreche ich Deutsch. Ich behaupte sogar, mein Arabisch schwächelt. Und mein Französisch sowieso, mein Englisch auch. Ich träume auf Deutsch. Nur wenn meine Mutter im Traum auf Deutsch redet, wache ich auf. Ich erkenne im Schlaf, dass da was falsch ist. Ein befreundeter Psychotherapeut hat mir das einmal erklärt: Es liegt daran, dass die Muttersprache schon im Bauch der Mutter anfängt und nicht erst, wenn sie das Neugeborene in den Arm nimmt und küsst und ihm erzählt und Milch gibt. Im Bauch hören wir an erster Stelle die Sprache der Mutter, weil sich das Gehör beim Menschen an
erster Stelle entwickelt. Die Muttersprache sitzt sehr tief im Bewusstsein. Die Sprache meiner Mutter ist Aramäisch oder Arabisch. Wenn sie also Deutsch redet, verursacht das einen Konflikt in meinem Hirn. Mein Vater spricht im Traum Deutsch oder Arabisch mit mir.
Welcher Kultur fühlst du dich heute zugehörig, der westeuropäischen oder der arabischen? Oder sitzt du zwischen den Stühlen?
Ich sitze nicht, ich stehe auf der Brücke dazwischen und stelle das Beste vom Deutschen und das Beste vom Arabischen zusammen: die Zuverlässigkeit der Deutschen, die ich würdig und respektierend finde, und die Gastfreundschaft der Araber. Ich mag sie sehr und meine Gäste schätzen sie auch, ich liebe Gäste. Die Zuverlässigkeit der Deutschen fasziniert mich, das ist eine tief sitzende Überzeugung, die haben wir Araber nicht. Wir leben in einem chaotischen System, das prägt einen.
In deinem Buch »Ich wollte nur Geschichten erzählen« schreibst du, dass du den Humor der Araber bei uns vermisst.
Jedenfalls sagen meine Geschwister, die mich besuchen: Du bist sehr ernst geworden. Du lachst weniger.
Aber deine Bücher sind sehr humorvoll.
Im Alltag agiere ich wahrscheinlich weniger humorvoll. Woody Allen übrigens auch. In den Büchern schon, ich mag das Lachen, das hat bei mir eine Funktion. Humor kann beim Erzählen helfen, die Atmosphäre lebendiger zu machen und Gedanken, die schwer verdaulich sind, besser in den Text zu schmuggeln. Du akzeptierst eine Weisheit eher durch Humor als durch eine Predigt. Ein »Ich sag euch das« macht schlechte Laune, während ein Witz, ein Lachen, besser im Herz und im Kopf ankommt.
Du schreibst viel über Syrien. Wie macht man das, wenn man seit so vielen Jahren schon nicht mehr im Land war? Wie recherchierst du?
Die Antwort ist nicht kompliziert: Ich bewege mich so gut in Damaskus, weil die Kindheit uns mehr als das Erwachsenendasein prägt. Ich bin mit meinem Fahrrad jahrelang durch die Gassen gefahren, habe den Geruch und die Geräusche mitgenommen, habe gehandelt und eingekauft, habe die Wände mit den Händen gestreift. Ich weiß noch, wie sich das alles anfühlt, wie die Leute sich verhalten. Jemand lächelt einen an, sagt, komm herein, trink einen Tee mit uns. Ein anderer beschimpft dich, sich und die Welt. – Wie macht man das dann im Exil? Ich habe eine sehr innige Beziehung zu meiner Schwester Marie, die vier Jahre jünger ist als ich. Und die schickte mir mit jedem Besucher Bücher über Damaskus, über Sitten und Gebräuche. Das war meine Bitte an sie: Schick mir so viele Bücher, wie du in Antiquariaten und in Buchhandlungen finden kannst. Freunde und Touristen hat sie zu einem Kaffee eingeladen und gesagt, können Sie das, wenn Sie wieder in Deutschland sind, meinem Bruder schicken? Und dann bekomme ich auf einmal aus Hamburg, Köln oder München einen Umschlag mit zwei, drei Büchern. »Wir waren zu Besuch in Damaskus und Ihre Schwester hat uns das gegeben.«
Welche Art von Büchern sind das?
Sachbücher und Geschichten. Ich habe eine ganze Bibliothek, die ›Damaskus‹ heißt. Ich besitze zum Beispiel ein Buch über Hochzeits- und Beerdigungssitten, das jeden Schritt einer Hochzeitsprozession zeigt. Die Leute haben die Aussteuer durch die Straßen getragen und der Nachbarschaft gezeigt, eine Prozession mit Stühlen, Kleidern, Besteck. Sie drehten sich, damit die Leute aus den Fenstern schauten und sagten: Herrlich, schön. Ich wusste das gar nicht, aber das gab es bei uns. Ein anderes Beispiel: Die Braut klatscht ein Stück Teig an den Türbalken, bevor sie in ihr künftiges Haus eintritt. Wenn der Teig nicht kleben blieb, war das ein Omen, dass sie keine Kinder kriegt. Teig (in der Regel Sauerteig), der sich vermehrt, symbolisiert die Familie, die sich vermehrt. Das sind alles Bräuche. In einem anderen Band sind alle Rufe der Straßenverkäufer versammelt, mit Detailfotos der Märkte. Ich brauche nicht durch die Straßen zu gehen, ich gehe durch dieses Buch. Vom Jahr 2000 an wurden die Bücher weniger, weil es das Internet gab. Jetzt habe ich eine elektronische Bibliothek für Damaskus. So kann ich mich frei bewegen. Und wenn ich irgend eine Frage habe, die nicht politisch ist, dann rufe ich meine Schwester Marie oder meine Freunde an. Mit den Jahren kannst du so schreiben, als ob du dort lebst, aber du lebst gleichzeitig hier in der Freiheit. Das ist für mich sehr vorteilhaft.
Ist trotzdem eine Sehnsucht nach der Heimat geblieben?
Immer. Das ist komisch und das hätte ich nie gedacht. Nach 48 Jahren in Deutschland und trotz der Sicherheit, die ich mit meiner Frau und meinem Sohn genieße, und trotz meines Erfolgs in Deutschland, mit diesem wunderbaren Publikum, das mir treu blieb und generationenübergreifend meine Lesungen besucht – trotzdem frage ich mich beim Aufstehen immer: Was machen die in Damaskus jetzt, zu dieser Stunde?
Die letzten Jahre muss die Sehnsucht ja noch schlimmer gewesen sein, seit Jahren herrscht Krieg in deinem Heimatland. Was machst du, um das zu bewältigen?
Es ist schlimmer geworden, und auch bitterer. Ich kann inzwischen keine Bil der der Zerstörung mehr sehen. Ich schreibe Notizen, die in keinem Buch vor kommen werden. Ich schreibe meine Wut oder meine Bitterkeit raus. Das Schreiben hilft mir sehr. Früher hat es mir geholfen, die Sehnsucht zu stillen. Ich habe es einmal so formuliert, dass man mich aus der Vordertür rausgeschmissen hat und ich durch die Hintertür der Literatur wieder reingekommen bin. Jetzt kann ich sagen: Indem ich schreibe, fällt mir einiges leichter.
Das mündliche Erzählen ist für dich ganz wichtig. Wie bist du dazu gekommen, wie
wurde es zentral in deinem Leben?
Im Grunde ist auch das wieder ein Kindheitserlebnis. Meine Eltern sind ein wenig wohlhabend, sie haben ein großes Haus und wir wohnten im ersten Stock. Unten vermieteten meine Eltern an Nachbarn, drei Familien. Das Haus hat einen Innenhof unter freiem Himmel. Acht, neun Monate im Jahr kannst du draußen essen. Der Innenhof ist gefliest und am späten Nachmittag spritzt man die Fliesen und die Blumentöpfe mit Wasser ab. Es wird kühler und es duftet. Und dann sitzen da die Nachbarn miteinander und erzählen. Ich habe als Kind oben am Fenster gelegen und zugehört. Manchmal bin ich auch runtergeschlichen. Ich war fasziniert, wie ein Erzähler, der selber nicht lesen kann – das waren Analphabeten, die durch das Leben weise geworden sind –, Geschichten erzählt, bei denen Erwachsene plötzlich hemmungslos anfangen zu lachen, wie Kinder. Ein anderer fängt an zu weinen, wenn der Held der Ge schichte stirbt, und seine Ehefrau tadelt ihn: Das ist doch nur eine Geschichte, was weinst du denn? Und nicht selten weint sie dann auch. Das hat mich fasziniert. Ich dachte, das ist kein Erzähler, sondern ein Zauberer.
Und der Zauberer war einfach ein normaler Nachbar?
Ja, ein Nachbar oder ein Besucher. Ein Onkel vom Land oder aus einer anderen Stadt. Und dann fängt er an zu erzählen und du weißt nicht, ob er jetzt die Wahrheit erzählt oder ein bisschen schummelt. Einer der Besten war ein Busfahrer. Immer wenn er gekommen ist, hat er sich gewaschen und einen Tee gemacht und alle Nachbarn eingeladen. Und dann saß er da und erzählte Ge schichten, die er angeblich als Busfahrer gehört hatte. Im Nachhinein denke ich, dass er einfach ein wunderbarer Erzähler war. Als ich zehn Jahre alt war, kam ein Bericht, das Damaskus-Radio würde über zwei Jahre, acht Monate und 27 Tage die Geschichten aus »Tausendundeiner Nacht« senden. Die Sendung lief nachts und ich kämpfte mit meiner Mutter, dass ich mithören durfte, immer eine halbe Stunde, Fortsetzung folgt. Es wurde immer an einer spannenden Stelle unterbrochen und ich konnte kaum schlafen. Ich lag da und fragte mich, wie die Geschichte weitergehen könnte, und ich habe immer danebengelegen, weil Kinder und Jugendliche immer Harmonie suchen. Ich stellte mir vor, dass die Handlung jetzt friedlich wird, und am nächsten Abend gab es Mord und Totschlag. Die nächste Folge endete wieder in einem spannenden Augenblick, zum Beispiel kurz vor einer angeblichen Hinrichtung. In der dritten Folge wird der Held dann befreit, aber gerät in die Hände von Piraten … Das ist das, was mich mitgeformt hat: Fortsetzungsgeschichten brauchen Spannung und keine Harmonie. Such nicht um jeden Preis die Harmonie, das ist Kitsch, sondern auch eine glaubwürdige Spannung. Die Fortsetzungsgeschichte im Radio hat mich zwei Jahre und acht Monate indirekt geschult.
Kam das Bedürfnis, selber mündlich zu erzählen, bei dir vor oder nach dem Schreiben?
Vor dem Schreiben. Ich war eine Null in Sport. In der Schule war ich sehr gut, aber das beeindruckte kein Mädchen aus meiner Gasse – in der christlichen Gasse hatten Frauen und Männer, Jungen und Mädchen Umgang miteinander. Ich konnte nicht mit meiner Kraft protzen, ich konnte aber mit meinem Erzählen sehr viel Sympathie gewinnen. Das hab ich erprobt, und die Mädchen waren total fasziniert. Mädchen können sowieso besser zuhören als Jungen. Das hatte also einen Reiz für mich. Ich fand bei mir zwei Fähigkeiten, die Voraussetzungen für einen guten Erzähler sind: ein gutes Gedächtnis und eine gute Stimme. Wenn man ein gutes Gedächtnis und eine krächzende Stimme hat oder umgekehrt eine gute Stimme und ein schlechtes Gedächtnis, dann hat man Pech. Dann kannst du den Beruf nicht ausüben. Ich kann einen ganzen Roman frei erzählen. Das ist keine Angeberei, das ist ein Ge schenk der Natur und … der Übung.
Macht es dir mehr Freude, vor einem Publikum zu stehen als am Schreibtisch zu sitzen?
Ich formuliere es extrem: Ich schreibe, damit ich auftreten kann. Damit ich mich nicht wiederhole, schreibe ich alle drei, vier Jahre eine neue Geschichte. Pro Roman habe ich etwa hundert Auftritte, und das befriedigt mich mehr als das Schreiben. Schreiben grenzt manchmal an Quälerei.
Das Publikum gibt dir ja auch viel zurück.
Natürlich, die Zuhörer bleiben aufmerksam, vergessen ihren Alltag und folgen meiner Geschichte. Ich brauche ungefähr zehn Minuten, bis ich merke, dass sich die Augen der Zuhörer in die von lauschenden, verzauberten Kindern verwandeln. Das ist ein Genuss, den ich dir nicht beschreiben kann: Du hast es geschafft, sie aus ihrer Arbeit und ihren Überlegungen und ihrem Kummer zu holen und sie auf einer Reise durch die Gassen von Damaskus zu begleiten. Was will man mehr. Das ist für mich eigentlich Literatur.
Du hast einen völlig eigenen Stil entwickelt, schriftlich wie mündlich. Man kann nicht sagen: Schami schreibt wie xy. Schami schreibt wie Schami. Wie bist du dahingekommen?
Ich kann dir drei Elemente nennen: Ein Element ist, dass ich als Schüler einer christlichen Eliteschule sehr früh Kontakt mit europäischen Kulturen hatte, mit französischen, englischen, später dann auch amerikanischen Dichtern. Deutsch kam später. Das zweite Element ist, dass das mündliche Erzählen meinen Stil sehr beeinflusst. Ich schreibe so, dass es erzählbar ist. Das ist schein bar einfach, ist es aber nicht. Es ist eine Kunst, schwere Inhalte erzählbar zu machen. Es gibt wunderbare Autoren, die man nicht nacherzählen kann. Mich hat der mündliche Erzählstil beeinflusst. Im Saal, in dem die Leute unbequem sitzen und keine Möglichkeit haben zurückzublättern, musst du erzählen und kleine Schleifen bringen, damit sie bis zu 90 Minuten folgen können. Und das dritte Element ist, dass mich das literarische Deutsch belehrte, nicht zu viele Adjektive zu gebrauchen. Ich habe eine Gratwanderung für mich entwickelt. Das, was du Schami-Stil nennst, ist arabisch-aramäisch, aber nicht bis zur Grenze von kitschig. Und europäisch, aber nicht bis zur Grenze von Trockenheit wie bei Thomas Mann, wo ein Nebensatz drei Meter lang ist.
Stimmt, ich habe mich vorhin gewundert, dass du ausgerechnet Thomas Mann erwähnst.
Ich habe damals Deutsche gefragt: Wer ist euer bester Autor? Da sagten sie: Thomas Mann. Wer ist euer bester Satiriker? Tucholsky. Wer ist euer bester Dichter? Heine. Und ich muss sagen, dass mich die ersten Romane von Thomas Mann nicht überzeugt haben, die waren langweilig. Dann stieß ich auf die »Buddenbrooks«. Der Aufstieg und Niedergang der Familie ist ein deutsches Pendant zur arabischen Sippe, vor der ich geflüchtet bin. Diese mächtige Sippe, die sich wohlfühlt, wenn sie alle ihre Familienmitglieder folgsam macht. Der Roman hat mich fasziniert. Das ist ein Meisterwerk. Danach brauchte ich eine Erholung, da habe ich Tucholsky abgeschrieben – wahnsinnige, giftige Satire, und sehr politisch – oder Heine, diese giftige Ironie über die Deutschen. »Deutschland. Ein Wintermärchen« ist für mich als Ausländer umwerfend, du lernst die Städte durch die Augen von Heine kennen.
Zu Aachen, im alten Dome, liegt
Carolus Magnus begraben.
…
Zu Aachen langweilen sich auf der Straß’
Die Hunde, sie flehn untertänig:
»Gib uns einen Fußtritt, o Fremdling, das wird
Vielleicht uns zerstreuen ein wenig.«
… So habe ich Aachen an einem regnerischen Tag erlebt, als ich am Bahnhof ankam und meine syrischen Gastgeber den vereinbarten Termin vergaßen
Und du bist ein großer Leser geblieben.
Ich liebe Bücher, ich lese von Sachbüchern über Krimis bis Lyrik alles. Vor allem spannende Romane lese ich, aber auch Weltliteratur. Ich habe den großartigen »Don Quijote« in der neuen Übersetzung von Susanne Lange gelesen, er ist genial, ein geniales Werk mit congenialer Übersetzung. Zum ersten Mal habe ich das bei dieser Lektüre so tief empfunden, weil wir in Arabien nur die kurze Zusammenfassung hatten, wo er als Verrückter gilt. Nein, das ist kein Verrückter. Der Roman ist eine giftige Satire über die Ritterromane und Sancho Panza ist nicht dumm, sondern ein bauernschlauer Kerl, der den Ritter begleitet und versucht, ihn zu retten. Eine wahnsinnig gute Geschichte.
Wie bereitest du dich auf deine Lesereisen vor?
Ich empfehle jedem, der frei erzählen will, nichts auswendig zu lernen, das wirkt papageienhaft. Die Hörer spüren, wenn man den Text auswendig gelernt hat, und es droht ein gefährliches Blackout. Sobald du ein Blackout hast, bist du aufgeschmissen, und auch das gnädigste Publikum gibt dir nicht mehr als drei bis fünf Minuten, dann hast du es verloren. Ich verinnerliche die Romane, das heißt, ich lese sie und suche nach Anhaltspunkten für einen roten Faden. Das dauert Wochen, wenn nicht Monate. Dann schreibe ich drei, vier Varianten, so dass ich für jeden Tag eine andere Variante wählen kann und mich nicht langweile. So ist jeder Abend ein Unikat und zugleich eine Herausforderung und lässt mich auf der Bühne authentisch werden. Du erzählst, wie du
erzählen würdest, wenn Freunde dir zuhören. Das ist meine Methode geworden und ich habe Skripte mit rotem Faden aus 30 Jahren gesammelt. Es ist nicht mehr als eine DIN A4-Seite. Sie liegt neben dem Wasserglas auf dem Tisch. Manchmal hast du einen Riesenbeifall, das bringt dich emotional aus der Strecke, dann guckst du – trotz Tränen in den Augen – lieber, was der nächste Punkt ist. Regieanweisung nenne ich das.
»Wirf eine Hand voll Lehm gegen die Wand, entweder er bleibt kleben oder er fällt herunter. Aber er hinterlässt auf jeden Fall Spuren.« Das ist ein Ausspruch deines Vaters aus dem Buch »Ich wollte nur Geschichten erzählen«. Wie ordnest du diesen Satz in deinem Leben ein?
Mein Vater war ein sehr strenger Mensch, der mir die Liebe zu ihm fast unmöglich gemacht hat, aber ich zollte ihm Respekt. Er war von Null zu einem reichen, wohlhabenden Mann geworden. Er hat uns alle, Mädchen und Jungen, auf Eliteschulen geschickt, das verdanke ich ihm. Ohne seine Entscheidung, uns gut zu bilden, wäre ich nicht nach Europa gekommen, sondern in Syrien hängengeblieben. Er war am Anfang oft gescheitert. Und er hat mir sein Prinzip verraten: Nimm immer wieder eine Hand voll Lehm und hau sie an die Wand. Entweder klebt der Lehm, dann hast du dein Ziel erreicht, oder er rutscht ab und hinterlässt Spuren, und diese Spuren trocknen mit der Zeit und lassen den nächsten Wurf etwas besser kleben. Ich habe das dann so richtig verstanden, als ich meine Romane auch in Deutschland verschickt habe. Ich habe mir damals alle Verlagsadressen rausgeschrieben. Es gab kein Internet und ich bin als Student auf die Buchmesse gegangen und habe Adressen gesammelt, mehrere hundert. Dann habe ich das Skript für teures Geld kopiert und verschickt: Eine Zusammenfassung plus ein Kapitel, wie man es mir empfohlen hatte. Immer Ablehnung, höfliche Ablehnung. Ihre Geschichte ist sehr schön, das Kapitel ist wunderbar, aber es passt nicht in unser Programm. Später habe ich alles in einem Ordner gesammelt, der ›Freundliche Ablehnungen‹ heißt. Als sich der Welterfolg mit dem »Erzähler der Nacht« eingestellt hatte, haben dieselben Verlage mir geschrieben und gefragt, ob ich nicht eine Geschichte für sie hätte. Und ich sagte, nein, leider nicht, ich habe jetzt meinen Verlag. So habe ich also geschickt, geschickt, geschickt, und irgendwann einmal blieb dieser Lehm hängen. Das erste Buch wurde veröffentlicht, dann das zweite, dritte etc., bis ich mit dem Roman »Eine Hand voller Sterne« 1987 bei Beltz und Gelberg landete. Das Buch bekam Riesenpreise, und von da an gingen die Türen auf. Seitdem arbeite ich gelassen, ich habe meine Verlage und bin froh, das ich frei schreiben kann, je nachdem, was der Roman braucht. Der Autor sollte immer sensibel auf die Bedürfnisse eines Romans reagieren, nicht das, was er beschlossen hat, aufschreiben. Ich halte nichts von einem eisernen Schema. Manches entwickelt sich plötzlich, auch wenn es in meinem Anfangsschema nicht drin war. Ich habe immer ein Schema und es ist für mich wie ein Rettungsring, aber ich gehorche ihm nicht.
Aus Akzente 02/2020; das Heft ist im Dittrich Verlag lieferbar.
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