Laudatio für Eva Weissweiler
zur Verleihung des Luise-Büchner-Preises in Darmstadt am 3. 12. 2023
VON BARBARA BÖTTGER
Sehr verehrte Damen und Herren, liebe Eva, lieber Klaus!
Wir ehren heute eine Schatzsucherin. Eine überaus erfolgreiche Archäologin unserer Geistes- und Kulturgeschichte. Eine Schriftstellerin, die tief gegraben und wundervolle Schätze aus dem Verborgenen hervorgeholt hat. Sie leuchten heute noch genauso hell wie damals, als man sie – und ich sage bewusst man – versteckt hat.
Was sagt uns die Geschichte heute eigentlich noch, fragen sich gerade junge Leute. Warum brauchen wir die Beschäftigung mit längst verstorbenen Menschen und vergilbten Manuskripten, es gibt doch genug News! Eine überflüssige, ja beinahe blasphemische Frage in diesem illustren Kreis. Denn jede dieser Nachrichten hat ja einen historischen Hintergrund, und wir müssen schon genau hinschauen, wer, wie und mit welchem Ziel die Vergangenheit interpretiert. Wladimir Putin missbraucht die Geschichte gerade für seinen Vernichtungskrieg gegen die Ukraine, Israelis und Palästinenser deuten sie in gegensätzlicher Weise und Rechtspopulisten betrachten sie aus ihrer beschränkt nationalistischen Sicht. Aber es geht auch anders, und hier kommen Kunst, Literatur und Philosophie ins Spiel, die über alle Ländergrenzen hinweg verstanden werden können. Caspar David Friedrich, der große Maler sehnsuchtsvoller Landschaften, wird im nächsten Jahr, 200 Jahre nach seinem Tod, mit vielen Ausstellungen weltweit gefeiert. Unser zutiefst gestörtes Verhältnis zur Natur hat kaum ein anderer Künstler so berührend ins Bild gesetzt.
Eva Weissweiler hat in ihren Büchern ein anderes historisch vernachlässigtes Menschheitsthema aufgegriffen – das gestörte Verhältnis des männlichen zum weiblichen Geschlecht. Nach mehr als 50 Jahren Frauenbewegung liegt immer noch Vieles im Argen. Unsere Autorin ist zwar keine »orthodoxe Feministin«, wie sie im Gespräch betont, aber sie wäre erst dann zufrieden, wenn sich die sogenannte Frauenfrage gar nicht mehr stellen würde, weil beide Geschlechter in jeder Hinsicht nicht nur die gleichen Rechte, sondern auch die gleichen Chancen hätten. Bei den ausübenden Musikerinnen sei dies schon heute der Fall, bei den Komponistinnen hingegen, in der Königsdisziplin der Musik, herrsche weiterhin die Vorstellung des Apostel Paulus: »Mulier taceat in ecclesia«, das Schweigeverbot für Frauen in der Kirche und der Öffentlichkeit. Deshalb sei es so wichtig, all die vergessenen Ehefrauen, Schwestern, Töchter und Enkelinnen endlich aus dem Schatten ihrer Genies herauszuholen und sie samt ihrer Werke entsprechend zu würdigen. Genau das hat sie mit wissenschaftlicher Präzision und in einem wunderbar leichten erzählerischen Stil getan. Trockene Geschichte wird hier zu einem spannenden Erlebnis.
Um eines vorwegzunehmen: Eva Weissweiler hat sich nicht nur mit Frauen im Umfeld berühmter Männer beschäftigt, sondern auch mit der Familie Freud, dem »lachenden Pessimisten Wilhelm Busch« und dem Dirigenten Otto Klemperer. Sie hat das Schicksal der Juden in dem Band Ausgemerzt! Das Lexikon der Juden in der Musik und seine mörderischen Folgen nachgezeichnet. Auch die Ausgrenzungserfahrungen von Migranten in der Bundesrepublik sind ihr ein wichtiges Anliegen. Sie war Mit-Herausgeberin des Buches Nationalität: Schriftsteller. Zugewanderte Autoren in Nordrhein-Westfalen und drehte mit ihrem heutigen Mann Klaus Kammerichs Dokumentarfilme unter dem Motto »Nationalität Schriftsteller«. Darüber hinaus kümmerte sie sich um die Nachlässe von Kollegen, die beim Einsturz des Historischen Archivs der Stadt Köln beschädigt wurden, und initiierte Schreib- und Fotokurse für psychisch Kranke. Als aktives Mitglied des PEN-Zentrums Deutschlands leistet sie gegenwärtig angewandte Solidarität mit anderen Autoren.
In einem Vortrag im März dieses Jahres im Atelier der Kölner Malerin Gerda Laufenberg bezieht sie sich auf den abgedroschenen, aber immer noch aktuellen Slogan der Frauenbewegung »Das Private ist politisch«. Nicht nur Sigmund Freud, der sich so intensiv mit der Binnenstruktur von Familien beschäftigte, habe seine Söhne besser behandelt als seine Töchter. Folgender Satz habe sie selbst ein Leben lang begleitet. Ich zitiere:
»›Aber Kind, das ist doch etwas ganz Anderes!‹ Meine Brüder hatten ein großes Zimmer und ich ein kleines. Meine Brüder durften Radfahren und ich nicht. Meine Brüder bekamen zwei Würstchen und ich nur eins … Eines Tages sagte mein späterer Doktorvater, für Frauen sei es wichtig, schnell zu studieren, damit sie möglichst bald ihren ›biologischen Pflichten‹ genügen könnten. Später wagte ich es, ihn einmal zu fragen, wozu denn die ganze Studiererei überhaupt gut sei? Darauf er: Um den Kindern eine gute Bildung zu geben! Und der Mann? Ob der keine ›biologischen Pflichten‹ habe? – Aber Fräulein Weissweiler, das ist doch etwas ganz Anderes! … Was dann geschah, werden Sie mir wahrscheinlich nicht glauben, weil Sie denken, so etwas gebe es nur bei den Taliban oder in Anatolien! Aber meine Eltern arrangierten eine Ehe für mich, mit einem Mann, den ich überhaupt nicht liebte! Ich war 19 Jahre alt und konnte nicht widersprechen, da ich noch nicht volljährig war … Meine Eltern waren froh, dass sie mich, obwohl zu gescheit, doch noch verheiraten würden, mit einem Mann, der aus guter Nazi-Familie stammte und ein richtiger Germane war, blond, blauäugig und nicht zu gescheit … Ich nahm die Pille. Ich brach aus. Ich reichte die Scheidung ein … Im Urteil des Richters hieß es: ›Die Klägerin wird schuldig geschieden, weil sie entschlossen ist, weiter zu studieren und nach ihrer Promotion berufstätig zu sein‹. Das war nicht Mittelalter, sondern 1974. Ich war 23 Jahre alt. Nach dem Urteilsspruch hätte ich mich am liebsten der RAF angeschlossen und Bomben auf die Hochburgen des Patriarchats und des Kapitalismus geworden. Habe ich aber nicht getan, sondern bin Feministin geworden.«
Als Musikwissenschaftlerin und Pionierin der Frauenmusikforschung, als WDR-Redakteurin, Verfasserin von Hörfunkfeatures, Dokumentarfilmen, Romanen und Kurzgeschichten, als eine der erfolgreichsten Biografinnen des deutschsprachigen Raums hat sie außerdem, längere Zeit als alleinerziehende Mutter, zwei Kinder großgezogen. Eine unglaubliche Leistung, die in den 70er Jahren kaum leichter war als bei ihren Protagonistinnen im 19. und frühen 20. Jahrhundert. Auf Leistung ist sie von ihrer Mutter, einer verhinderten Konzertpianistin, schon früh getrimmt worden. Sie machte im Alter von 14 Jahren Konzertreisen als Solistin bis nach England, bestand die Aufnahmeprüfung an der Kölner Musikhochschule, brach aber die Klavierstudien bald ab. Sie erzählt:
»Zwölf Jahre lang täglich 3–4 Stunden üben, keinen Sport usw., ich war ziemlich einsam. Aber ich wollte schreiben! Für meine Mutter blieb ich selbst nach einer enthusiastischen Rezension eines Buches im Spiegel eine Nestbeschmutzerin, die Gängiges in Frage stellt.«
Genau dafür wird sie heute hier geehrt. Sie wollte nicht hinnehmen, dass in ihrem Studium der Musikwissenschaft nur zwei weibliche Namen als Komponistinnen genannt wurden: Clara Schumann und die heilige Cäcilie als Schutzpatronin der Kirchenmusik. »Komposition war eben männlich, so sicher wie die Erde rund ist. Eine seltsame Schizophrenie, als wäre ein Teil der Menschheit ausgeblendet worden«, berichtet sie. Dem galt es abzuhelfen. 1978 gründete sie mit der Dirigentin Mascha Blankenburg den »Arbeitskreis Frau und Musik«, aus dem das »Archiv Frau und Musik« hervorging. 1980 wurde das 1. Festival »Frau und Musik« veranstaltet, dem weitere folgten. Die Frauenmusikbewegung hat viel bewegt, dennoch waren noch 2015 von 130 Generalmusikdirektoren nur 3 Frauen. Während der Anteil der weiblichen Musik-Studierenden bei 30 % lag, waren es bei den Professuren nur 8 %. Sie habe einen Traum, sagt Eva: »Wenn nur eine Woche keine Frauen mehr spielen, einen Frauenstreik ausrufen würden, bliebe es still.«
Um die Frauen endlich aus ihrer Aschenbrödel-Rolle herauszuholen, verfasste sie 1981 das Werk Komponistinnen aus 500 Jahren: Eine Kulturgeschichte in Biografien und Werkbeispielen, das 1999 in einer erweiterten Form neu aufgelegt wurde. Darin heißt es:
»Die meisten wissenschaftlichen Fehlurteile über komponierende Frauen … sind auf den simplen Umstand zurückzuführen, dass nur der kleinste Teil ihrer Kompositionen in erreichbaren Editionen vorliegt … Wer nach Werkbeispielen der drei wohl produktivsten deutschen Komponistinnen dieser Zeit sucht [sie spricht vom ausgehenden 19. Jh.], muss ebenso viel Mühe aufwenden wie bei der Forschung nach einer byzantinischen Neumenhandschrift des 9. Jahrhunderts.«
1991 erschien Clara Schumann. Eine Biografieüber das »engelsgleiche Wunderkind am Klavier«, das schon als 7jährige von ihrem Vater öffentlich vorgeführt wurde. Trotz einer unkritischen Glorifizierung der Komponistin mangelte es an einer wissenschaftlichen Darlegung der von ihr begründeten Interpretationsrichtung sowie einer Edition ihres umfangreichen Werkes. Auch ihrem Ehemann Robert fiel es schwer, die Kompositionen seiner Frau wertzuschätzen. Ich zitiere:
»Nach der Heirat im Jahre 1840 musste Clara ihre Tätigkeit als Virtuosin … einschränken. Da sie in dreizehnjährigem Zusammenleben acht Kinder bekam, konnte sie nur drei große Konzertreisen machen: nach Skandinavien, Russland und Wien. Während dieser Zeit entwickelte Robert eine immer stärkere Abneigung gegen ihr öffentliches Auftreten … er konnte es nicht ertragen, wenn das Publikum Claras Spiel weit mehr honorierte als seine für die damaligen Hörer schwer verständlichen Kompositionen. Gereiztheit und psychosomatische Beschwerden waren die Folge. Aber auch zu Hause durfte Clara nicht wie gewohnt üben, denn Robert wurde durch die geringste Störung vom Komponieren abgelenkt. Trotz schwerer Krisen hat sie nicht die doch durchaus verständliche Entfremdung eingestanden, sondern sich ihr Leben lang als zärtlich liebende Gattin ausgegeben, die ihrem Robert noch über dessen Tod hinaus treu war … Clara Schumann war eher angepasst als emanzipiert … Nach Roberts Tod im Jahre 1856 hörte Clara auf zu komponieren.«
Auch Fanny Hensel, die ältere Schwester von Felix Mendelssohn-Bartholdy, wurde zuerst von ihrem Vater Abraham und dann von ihrem Bruder Felix hartnäckig an der Publikation ihrer Werke gehindert, obwohl die Geschwister wie künstlerische Zwillinge aufwuchsen und Felix seine Schwester immer an seinen Projekten beteiligte. Ihre anspruchsvollen Kompositionen schrieb sie heimlich, wenn ihr Vater auf Geschäftsreisen war. Erst in Fannys letztem Lebensjahr wurden Teile ihrer Kompositionen veröffentlicht. Nach ihrem unerwarteten Tod veranlasste Felix seinen Verleger reuevoll, Fannys Lieder op. 8-11, die vorher unter seinem Namen ediert waren, herauszugeben. In der älteren Biografik wurde Fanny Hensel so dargestellt: »Sie sei hysterisch, sentimental, besitzergreifend und eifersüchtig gewesen, als Komponistin eine völlige Dilettantin«.Später, als Musikwissenschaftlerinnen genauer nachforschen wollten, mangelte es an Quellen, die vorhandenen waren unvollständig und fehlerhaft, auch das zuständige Mendelssohn-Archiv war nicht sehr hilfreich. Eva Weissweiler kommentiert dies im Vorwort zu ihrem Buch Fanny und Felix Mendelssohn. Die Musik will gar nicht rutschen ohne Dich. Briefwechsel 1821–1846 wie folgt:
»Die wissenschaftliche Ächtung und Ausgrenzung hatte einen besonders unangenehmen Beigeschmack, da sie die Diskriminierung [beider] Mendelssohns unter den Nationalsozialisten fortsetzte. Wie durch ein Wunder waren in Zeiten schlimmster antisemitischer Musikpolitik Autografen von Fanny und Felix erhalten geblieben.«
Später hat Eva Weissweiler ihren Themenkreis auf andere Gebiete wie Literatur, Philosophie, Politik und Widerstand erweitert. Ihre letzten wichtigen Biografien handeln alle vom Exil, in das die Protagonisten vor dem preußischen Staat und seiner Geheimpolizei oder den Nationalsozialisten fliehen mussten. So wuchs die Tochter von Karl Marx, Eleanor, genannt Tussy, in England auf. In ihrem Buch Tussy Marx – Das Drama einer Vatertochter bzw. in der Neuausgabe mit dem Titel Lady Liberty: Das Leben der jüngsten Marx-Tochter Eleanor entwirft die Autorin ein breites Panorama der frühen sozialistischen Bewegung, der Aufstände und Revolutionen in Frankreich und Deutschland, der gewerkschaftlichen Organisierung der Arbeiter überall in Europa und den USA und als Reaktion darauf das Sozialistenverbot, Gefängnisaufenthalte, gnadenlose Verfolgung und rabiate Polizeigewalt. Das »Kommunistische Manifest« von Karl Marx und Friedrich Engels im Jahre 1848 und später die vertiefte Analyse in Marx »Kapital« wirkten als Triebkraft und Programm für diese politischen Umwälzungen. Eva Weissweiler beleuchtet dieses Geschehen jedoch nicht aus der Perspektive der verallgemeinernden Geschichtsschreibung oder gar der Theorie, die von den kommunistischen Parteien weltweit zur Legitimation ihrer diktatorischen Herrschaft missbraucht wird, sondern aus der Sicht der handelnden Personen, insbesondere ihrer Frauen und Töchter – mühevoll aus den Archiven und Bibliotheken ausgegrabene Fundstücke. Und plötzlich ergibt sich ein völlig anderes, vollständigeres Bild, als wir es bisher im Kopf hatten. Wir wussten zwar von der Not der Familie Marx im ärmsten und schmutzigsten Teil von London in der ersten Zeit der Emigration, von Engels als dem großzügigen Mäzen des Genies, der alle Schulden beglich, vielleicht sogar von der Affäre mit seiner Haushälterin, und dem unehelichen Sohn Freddy, zu dem Marx sich nie bekannte und den er in ärmlichsten Verhältnissen aufwachsen ließ. Aber dass seine hoch gebildete Frau Jenny von Westfalen nicht nur sechs Kinder gebar, von den zwei im Säuglingsalter starben, ständige schwere Krankheiten ihrer Familie behandeln und lange Abwesenheiten, die Launen und die »liebevolle Gleichgültigkeit« ihres Mannes ertragen musste, dass sie zwar seine schwer lesbaren Manuskripte abschreiben, aber ihre eigenen glänzenden Theaterrezensionen nur unter einem Pseudonym veröffentlichen durfte, das alles wussten wir nicht. Noch weniger war über seine geliebte Tochter Tussy bekannt. Diese vielseitig begabte junge Frau opferte sogar ihre Verlobung mit einem berühmten französischen Autor, ihre Stellung an einer boarding-school und eine mögliche Karriere als Schauspielerin ihrem bewunderten »Mohr«, dem großen Denker. Nach dem frühen Tod von Jenny wurde sie die Assistentin, Sekretärin, Krankenschwester und Begleiterin von Marx während seiner Kuraufenthalte und stellte sich ganz in den Dienst der Sozialistischen Internationale, deren wichtigste Köpfe bei ihnen ein und ausgingen. Als Autodidaktin – ihr Vater hielt jede schulische Erziehung für eine Zwangsmaßnahme – arbeitete sie nach seinem Tod als Übersetzerin und politische Journalistin, wurde eine prominente Sprecherin der englischen Arbeiter- und Gewerkschaftsbewegung und übernahm eine führende Rolle in der Zweiten Internationale. Sie distanzierte sich von Marx ablehnender Haltung zur Judenfrage und kämpfte gegen Antisemitismus, kritisierte seine Einordnung der Frauenfrage als Nebenwiderspruch und setzte sich leidenschaftlich für Frauenrechte ein. Privat allerdings schaltete sie ihren Verstand aus und unterwarf sich dem Betrüger Aveling, der ihr Vermögen verschleuderte, neben der Ehe mit ihr unter falschen Namen eine Jüngere heiratete und es offensichtlich nur auf ihr Geld und ihr Erbe abgesehen hatte. Ein besonders trübes Kapitel ist dann das unwürdige Gezerre von Heroen der sozialistischen Bewegung wie August Bebel um den literarischen Nachlass von Marx, seine Briefe, unveröffentlichten Manuskripte und Urheberrechte aus dem »Kapital«. Obwohl Marx seine Töchter testamentarisch als Alleinerben eingesetzt hatte, Tussy gemeinsam mit Engels seine unvollendeten Entwürfe für Band zwei und drei des »Kapitals« bearbeitete, wurden sie durch hässliche Intrigen quasi enteignet.
»Ich bin so allein und ich stehe vor der fürchterlichsten Situation: äußerster Ruin – alles bis auf den letzten Pfennig, oder äußerste Schande vor aller Welt … Ich bin gebrochen«,
schreibt sie an ihren Halbbruder Freddy. Eleanor Marx, genannt Tussy, nahm sich im Alter von 43 Jahren das Leben.
Eine ganz andere Szenerie beschreibt Eva Weissweiler in ihrem Buch Notre Dame de Dada. Luise Straus-Ernst – das dramatische Leben der ersten Frau von Max Ernst. Ein überaus lebendiges Gesellschaftsporträt von Köln in den Zwanziger Jahren. Man hat beim Lesen buchstäblich das Gefühl, mittendrin zu stehen im Leben und Treiben der künstlerischen Bohème der Dada-Bewegung. Luise gründete ein Kulturzentrum als Antwort auf Krieg und Revolution, umgeben von Max Ernst, André Breton, Paul Klee und Paul Eluard. Die promovierte Kunsthistorikerin war Gastgeberin, Pressefrau und Mäzenin, verfasste wissenschaftliche, journalistische und literarische Texte und kümmerte sich um den gemeinsamen Sohn, bis sie als Jüdin nach der Scheidung und der Machtübernahme der Nazis nach Frankreich emigrieren musste und 1944 in Auschwitz ermordet wurde. Selten ist das Leiden an Flucht und Exil so eindrucksvoll beschrieben worden.
Unsere Biografin nimmt sich eine weitere geflüchtete, in England als feindliche Ausländerin internierte und schließlich in New York angekommene Angehörige eines Genies, die Enkelin von Richard Wagner, vor: Friedelind Wagner. Erbin des Feuers eine Spurensucheheißt das Werk, das im Herbst dieses Jahres in einer Neuausgabe erschienen ist. Auch hier beeindruckt wieder die ungeheure Sorgfalt, mit der sich Weissweiler unveröffentlichten Quellen und Fehldeutungen anderer Autoren widmet, ja sogar die vorher verschollene Autobiografie von Friedelind »Nacht über Bayreuth« auseinandernimmt. Eine tatkräftige interessante Frau voller Widersprüche, als »Außenseiterin« und »schwarzes Schaf« der Familie verunglimpft. Tatsächlich war sie die einzige Antifaschistin der Wagner-Dynastie, obwohl sie als Kind Adolf Hitler, der häufig zu Gast im Haus Wahnfried war, als »Onkel Wolf« glühend verehrt hatte. Ist sie aus politischer Überzeugung emigriert oder um Abstand von ihrer kaltherzigen Mutter und den Brüdern Wieland und Wolfgang zu bekommen, die das Erbe des Großvaters unter sich aufteilen wollten? Diese Frage lässt die Autorin offen, die Quellen geben keine befriedigende Antwort darauf. Friedelind darf nach ihrer Rückkehr aus dem Exil das Familienunternehmen nicht mehr führen, organisiert aber von 1959 an die berühmten Meisterklassen in Bayreuth, entwickelt ein neues realistischeres Opernkonzept als ihre Brüder und beschafft ihren internationalen Schützlingen Engagements, Stipendien und Verträge.
Obwohl Ihnen vielleicht schon der Kopf schwirrt von all den vielen Persönlichkeiten, wie es mir selbst auch manchmal ergangen ist, möchte ich Ihnen die letzten beiden Bücher nicht vorenthalten: Das Echo deiner Frage: Dora und Walter Benjamin – Biographie einer Beziehung, für das Eva Weissweiler im Februar 2020 auf Platz 1 der Sachbuch-Bestenliste von ZEIT und Deutschlandfunk gesetzt wurde, sowie Villa Verde oder das Hotel in Sanremo. Das italienische Exil der Familie Benjamin. Die Parallelen zu den vorigen Büchern sind verblüffend: Wieder lernen wir die von Benjamin-Biografen verunglimpfte Ehefrau eines berühmten Intellektuellen kennen, dessen Werk ohne sie nicht denkbar gewesen wäre. Wieder hat ein Mann Teile der Veröffentlichungen seiner Frau im Verzeichnis seiner eigenen Werke aufgelistet. Anfangs war es eine glückliche Ehe, bis Walter die lettische Revolutionärin Asja Lacis kennenlernte und sich von Dora trennte. Selbst nach einer in ihren Worten niederträchtigen Scheidungsklage seinerseits, in der er ihr die alleinige Schuld an der Zerrüttung der Ehe zuschrieb, aber schließlich vor Gericht verlor, verzichtete sie auf Rückzahlung ihrer Mitgift und Unterhalt. An den gemeinsamen Jugendfreund Gershom Scholem schreibt sie danach:
»Aber wo bleibt sein Wesen, das mir solange führend war, wenn er nur noch Kopf und Geschlecht ist? Ich kann es ansehen, von welchem Standpunkt ich will, es ist und bleibt ein entsetzliches Unglück.«
Dennoch blieben sie weiterhin gute Freunde, schrieben sich viele Briefe und lebten nach ihrer Flucht in Sanremo eine Zeitlang wie eine Familie zusammen. Dora unterstützte den lebensuntüchtigen Philosophen, der jeglichen Brotberuf ablehnte, moralisch und finanziell und besorgte ihm beim deutschen Konsul in Italien mit Lügen die rettenden Ausreisepapiere. Er nahm sich trotzdem, gerade aus deutscher Internierung entlassen und schon jenseits der Grenze, nach einem »nervösen Kollaps« im spanischen Portbou das Leben. Dora schreibt danach an Scholem:
»Ich denke an ihn wie ich es in Bern … tat, als Du mich fragtest, was der Sinn des Lebens für mich sei und ich Dir sagte: ihn zu schützen und ihn fähig zum Leben zu machen. Er wäre nicht gestorben, wenn ich bei ihm gewesen wäre.«
Die aus einer ostjüdischen Familie stammende promovierte Chemikerin ernährte die Familie auch während der Ehe mit Walter Benjamin durch journalistische und literarische Arbeiten. Sie schrieb Reportagen und Rezensionen für angesehene Zeitschriften und den Rundfunk, wurde Chefredakteurin der »Praktischen Berlinerin«, verfasste aber auch Kurzgeschichten und den Antikriegsroman »Gas gegen Gas«, eine Vision, wie man einen solch entsetzlichen Giftgaseinsatz wie im 1. Weltkrieg vermeiden könnte. Nachdem sie ab 1933 nicht mehr in Deutschland publizieren durfte, eröffnete Dora mit ihrem Sohn in dem eleganten Badeort Sanremo an der italienischen Riviera das Hotel »Villa Verde«, wo sie als gute Köchin und Geschäftsfrau vielen ins Exil getriebenen Schriftstellern, Malern und Intellektuellen wie zum Beispiel Theodor Adorno einen sicheren Zufluchtsort bot. Bis auch hier die Juden verfolgt wurden. So musste sie also zum 3. Mal ohne Geld in einem anderen Land neu anfangen. Sie floh nach London und eröffnete dort ein Boardinghouse, leitete nach der Bombardierung der Stadt eine öffentliche Küche auf dem Lande und später wieder ein Hotel in London. Für ihre Enkelin Mona Benjamin war Dora eine »scharfsinnige, unbeirrbare Frau mit scheinbar grenzenloser Kraft und Entschlossenheit«.Die Autorin hat ihr mit diesem minutiös recherchierten Band endlich Gerechtigkeit widerfahren lassen.
»Die Landkarte mit den weißen Flecken des Fragmentierten zu füllen, sie mit Formen und Gestalten zu füllen«. So beschreibt Eva Weissweiler ihre Motivation bis heute. Sie hoffe, dass das gedruckte Buch niemals durch E-Books oder schnelle Posts auf Social-Media-Kanälen ersetzt werden wird. Lesen Sie ihre Bücher und Sie werden viele systematisch aus unserem historischen Gedächtnis verstoßene oder fehlinterpretierte Frauen entdecken. Wir sind gespannt auf das nächste Grabungsergebnis dieser herausragenden Schatzsucherin.