Das Wasser der Ruhr umfloss meine Haut, das weiße Hermelin in der Schneelandschaft ließ mich staunen

Nature Writing? Was ist das?

Im November lese ich zusammen mit Marion Poschmann in Essen. Ich lernte die erste Trägerin des Deutschen Preises für Nature Writing auf einem Symposium der Stiftung Kunst und Natur in Nantesbuch kennen.

Auf der Homepage der Stiftung heißt es:

»Georg Forster und Alexander von Humboldt waren entscheidende Impulsgeber für die literarische Gattung des Nature Writing. Zunächst vor allem im angelsächsischen Raum entwickelt, gewinnt das Nature Writing auch im deutschsprachigen Raum zunehmend an Bedeutung.

Nature Writing beschäftigt sich mit Natur. Dies geht aber über die Beschreibung der unberührten, wilden Natur weit hinaus und betrifft umso mehr auch die vom Menschen bearbeiteten Naturerscheinungen, Kulturlandschaften ebenso wie gestörte Lebensräume. Nature Writing beleuchtet das Verhältnis des Menschen zu seiner Umgebung – zu Landschaft, Lebenswelt und anderen Lebewesen. Häufig verbinden sich autobiografische Elemente mit essayistischen Reflexionen über die gesellschaftlichen Umstände und das eigene Naturerleben. Nicht zuletzt findet sich oft auch politische Programmatik in den mannigfaltigen Ausprägungen dieser Literatur.«

Das Bundesumweltamt gibt im Rahmen der Ausschreibung des Nature-Writing-Preises an:

»Der einmal jährlich vergebene Preis knüpft an die vor allem in den USA und in Großbritannien verbreitete schriftstellerische Tradition des Nature Writing an, in der sich Autorinnen und Autoren mit der Wahrnehmung von Natur, mit dem praktischen Umgang mit dem Natürlichen, mit der Reflexion über das Verhältnis von Natur und Kultur und mit der Geschichte der menschlichen Naturaneignung auseinandersetzen. Genreübergreifend findet dabei sowohl essayistisches als auch lyrisches und episches Schreiben Berücksichtigung.

Die Thematisierung von ›Natur‹ schließt die Dialektik von äußerer und innerer Natur ebenso ein wie die Auflösung der Grenzen von Kultur und Natur oder die Fragestellungen rund um die Wahrung von Naturerscheinungen und natürlichem Geschehen. Nature Writing spricht nicht von ›der Natur als solcher‹, sondern von der durch Menschen wahrgenommenen, erlebten und erkundeten Natur.«

Ich kannte immer schon amerikanische Nature-Writing-Autoren wie Henry David Thoreau und sein berühmtes Buch Walden, aber ich wusste nicht, dass das Nature Writing ist. Und auch Marion Poschmann sagte auf dem Symposium, sie habe erst einmal googeln müssen, was Nature Writing ist, als man ihr am Telefon mitteilte, dass sie den Preis erhalten sollte. Die Gattung – es handelt sich also nicht um ein Genre; mehrere Genres wie Sachbuch, Biografie, Lyrik, Roman können sich unter die Gattung Nature Writing subsummieren – lernte ich als solche erst durch die Naturkundereihe im Verlag Matthes & Seitz kennen. Dadurch angeregt fand ich, was ich seit Jahren gesucht hatte.

Landschaftsschilderungen bildeten bereits den Hintergrund meiner Romanhandlungen, insbesondere in Stern über Europa, einer Utopie über die sozial und ökologisch nachhaltige Entwicklung unserer Gesellschaft. Einige breiteten sich zu eigenständigen Reiseerzählungen aus. Schließlich suchte ich eine Literaturform, in der die Natur ihr Eigenleben entfalten kann wie die Libelle ihre Flügel nach dem Schlüpfen. Dank der Gattung »Nature Writing« konnte ich diesen Traum verwirklichen.

In meinen Romanen habe ich innere Konflikte und Gesellschaftskonflikte gelöst. Nach Fertigstellung des letzten Romans war ich frei. Endlich konnte ich tun, was ich immer schon wollte: in die Natur gehen. Sie riechen und befühlen. Das Wasser der Ruhr umfloss meine Haut, das weiße Hermelin in der Schneelandschaft ließ mich staunen, ich genoss die Natur, um sie in meiner Erinnerung zu bewahren, und meine Erinnerung funktioniert am besten, wenn ich aufschreibe, was ich erlebe.

Im August letzten Jahres führte mich ein Stipendium der Franz-Edelmaier-Residenz für Literatur und Menschenrechte nach Meran. Ich schrieb unter dem Motto: Natur ist ein Menschenrecht. Damit meine ich: Qua seiner Geburt auf diesem Planeten müsste eigentlich jeder Mensch nicht allein das Recht auf frisches Wasser und reine Luft haben, sondern auch das Recht auf Ruhe, Rückzug, Raum, sich zu bewegen, und das Recht auf ein Stück Land, auf dem Menschen gesunde Nahrung für sich oder andere anbauen können. Außerdem das Recht auf die Begegnung mit Pflanzen und Tieren, die wir brauchen, um uns sowohl abzugrenzen als auch zu identifizieren und unser eigenes Menschsein zu definieren. Rund um Meran beobachtete, belauschte und befühlte ich die vom Verschwinden gezeichnete Natur, um sie zu genießen, zu bewahren und das Erlebte in poetischer Sprache weiterzugeben.

Ich wandere durch die Natur, das bringt nicht nur Sauerstoff ins Hirn und in die Blutbahnen, das regt auch alle Sinne an – und die bekommen mehr zu tun und werden stärker gereizt als indoor. Wörter und Sätze, die das Erlebte schildern wollen, bekommen durch das Gehen einen Rhythmus und der Versuch, das Wahrgenommene zu beschreiben, wird zum Spiel. Dabei kommen Neuschöpfungen und ungewöhnliche Zusammensetzungen zustande. Insbesondere bei Farbadjektiven, aber auch bei der Suche nach präzisen Ausdrücken für Gerüche oder Gehörtes.

Das Prosaschreiben bin ich von jeher gewohnt. Die Lyrik ist neu für mich. Ich habe immer gesagt, ich schreibe niemals Gedichte. Aber die Natur bietet eine solche Vielfalt, die lässt sich nicht eins zu eins schildern. Da waren zu viele Dimensionen, zu viele Ebenen, zu viele Sinneswahrnehmungen, um sie linear aufzuschreiben. Was tun? Ich konnte nicht nur auswählen, ich musste auch verknappen und reduzieren, Essenzen suchen und finden. Auf diesem Weg bin ich zu Prosagedichten und Gedichten gekommen.

Diejenigen Texte in meinem Buch, die an der Ruhr spielen, sind vorwiegend in der Coronazeit entstanden. Ehrlich gesagt habe ich es genossen, dass keine Flugzeuge über Bochum-Dahlhausen flogen und keine Automotoren brummten. Dahlhausen war plötzlich ein Urlaubsort geworden, wo ich Ruhe und Erholung fand, tief durchatmete, wanderte und Flora und Fauna beobachtete, beschnüffelte und probierte, was gut schmeckte und bekömmlich war. Die Texte über Wupper und Lenne sind beim Fliegenfischen entstanden. Ich beobachtete Eisvögel, die an mir vorbei übers Wasser schossen, und Nutria, die sich an der Wasserkante umarmten und dabei ihre orangefarbenen Schneidezähne in die Pelze kuschelten, und vergaß darüber, den künstlichen Fliegenköder sanft auf die Wasseroberfläche zu werfen. Statt an den Köder schwammen die kleinen Forellen zwischen meinen Knien herum und ließen ihre bunten Punkte glänzen.

Der Text Die Grenze riecht nach Rüben entstand im Rahmen eines Stipendiums des Goethe-Instituts in Tschechien. Ich wohnte im Kloster Broumov an der tschechisch-polnischen Grenze und sollte zum Thema Vor der Grenze hinter der Grenze schreiben. Es war Februar. Ich wanderte teils zu Fuß, teils auf Langlaufski die Grenze entlang, um herauszufinden, ob es dies- und jenseits anders aussähe oder ob sich meine These bestätigte: Die Natur kennt keine Grenzen. So hat jeder Text einen anderen Entstehungsgrund.

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