VON ISABELLE LEHN
Ich lebe wieder als Delfin. Ich bin geübt darin, dass alles schwimmt, ich tauche nicht zum ersten Mal ab und gerate nicht mehr in Panik, wenn ich in die Dunkelheit sinke. Aus dem Delfinbuch, das eigentlich anders heißt, habe ich gelernt, Angst und Depression als Delfin zu begegnen, wenn es als Mensch nicht mehr geht. Delfine, steht im Delfinbuch, müssen erst tief hinabtauchen, um hoch aus dem Wasser zu springen. Seit ich das weiß, kann ich den Abgrund erkunden, ohne darin unterzugehen. Ich habe Routine als Delfin. Ich werde nicht mehr am Delfinsein ertrinken.
Diesmal aber ist alles anders. Die Oberfläche ist nicht mehr sichtbar, ich weiß nicht mehr, wo oben und unten ist. Das Wasser ist jetzt überall. Es ist unter Wasser und über Wasser, diesseits und jenseits des Meeresgrunds, oberhalb des Horizonts. Mein Sonar führt ins Leere. Alles ist Leere, innere und äußere Lähmung, innerer wie äußerer Stillstand. Es gibt keinerlei Konzentrationsunterschiede, und egal, wo ich auftauche: Die Depression ist immer schon da, die Depression ist totalitär. Zwischen mir und der Welt herrscht ein ausgeglichenes Schwächeverhältnis.
Seit es gleichgültig steht, null zu null, unentschieden, lohnt es sich nicht mehr, gesund zu werden. Als Delfin bin ich ein besserer Mensch, und es reicht schon, wenn die Welt sich verändert, um mit mir in Einklang zu leben. Ich schlucke Medikamente und lasse mir Depressionen verordnen. Oben ist unten, was früher schlecht war, ist jetzt besser für alle, was ich für krank hielt, ist plötzlich gesund: Rückzug, Isolation, Depression – eine gesunde Reaktion auf kranke Lebensumstände. Es war noch niemals so leicht, als Delfin zu leben und sich dem Rausch der Tiefe ganz hinzugeben.
Meine Grenze liegt bei dreihundert Metern. So tief kann ich tauchen, ohne das Bett zu verlassen. Die Atmung schön flach halten und das Gesicht als eine lächelnde Maske tragen – kein Problem für mich, als Delfin. Delfine sehen immer freundlich aus. Sie haben Interesse am Menschen und kommunizieren über Schallwellen, um große Distanz zu überwinden. Manchmal durchbreche ich die Oberfläche wochenlang nicht. Ich bin gut darin, Pläne zu schmieden und wieder aufzugeben, Termine abzusagen und im flachen Wasser der Tage dahinzutreiben, Nächte ausufern zu lassen. Delfine schlafen· nur mit einer Gehirnhälfte. Ein Auge bleibt offen, um zu erkennen, ob Feinde sich nähern. Ich bin wachsam, Tag und Nacht, und kann lange von Resten leben, Beifang, den ich in den Schränken finde. Nach draußen gehe ich nur noch selten. Alles schwimmt, alles dreht sich im Kreis. Nur die Angst trifft plötzlich auf Grund, und lieber bin ich Delfin, als ein Mensch, den ich nicht wiedererkenne. Ich schalte das Mikrofon stumm und die Kamera ab. Niemand soll sehen, dass ich kein menschliches Antlitz mehr habe.
Auf den Druck in der Tiefe, die Depression, folgt die Gefahr der Dekompression. Eine richtige Dekompression, das langsame Verringern des Drucks während des Auftauchens, entscheidet über Leben und Tod. Anstatt nach draußen zu gehen, bade ich lieber, lang und zu heiß, damit mir das Blut in den Kopf schießt und der Druck aus den Ohren verschwindet. Auf meinem Brustkorb lastet das Gewicht eines Ozeans.
Als Delfin bin ich dem Menschen sehr ähnlich, elegant in meinen Bewegungen, zugewandt, mit freundlichem Auftreten. Ich erfülle alle Kriterien, um als Individuum zu gelten. Ich habe positive und negative Empfindungen und bin in der Lage, mein Verhalten zu steuern. Ich kann andere Wesen erkennen, ihnen mit Respekt begegnen, Zuneigung für sie empfinden und mich selbst im Spiegel wahrnehmen. Ich verfüge über Selbstbewusstsein, hohe geistige Kapazität und Verletzlichkeit. Ich bin in der Lage, körperlich und gefühlsmäßig intensiv und langanhaltend zu leiden.
Meine Haut kann 40 Zentimetern dick werden. Zugleich ist sie hochsensibel, durchzogen von Nervenenden, die empfindlich auf Druck- und Temperaturunterschiede reagieren. Meine Stirn- und Zungenhaut kitzelt, wenn sie auf Schallwellen trifft, Klicklaute, Pfeifen und Schnattern, Berührungen aus der Distanz, die ich über die Haut wahrnehme. Die Sprache umarmt mich, ich höre über Körperkontakt. Mir fehlt diese Sprache. Meine Oberfläche ist glänzend und glatt.
Alle zehn Meter Tiefe steigt der Druck um ein Bar. Gegen Abend falle ich in den Tiefenrausch und weise Symptome auf, die einem Alkoholrausch vergleichbar sind: Gestörtes Urteilsvermögen, eingeschränkte Koordinationsfähigkeit, unter Umständen Panik und Übelkeit, in seltenen Fällen: Euphorie. Das ist alles, worauf ich noch warte. Ein Delfin ist in der Lage, sein Verhalten zu steuern, er kann die Tiefe seines Rauschs kontrollieren, die Richtung ändern, wieder nach Oben streben – alles kein Problem, als Delfin. Ich schließe ein Auge und träume mich weg.
In meinen Träumen kann ich noch aufrecht gehen. Ich habe zwei Beine, auf denen ich laufen muss, um meinen Zug nicht zu verpassen, vielleicht den Flieger, in manchen Träumen auch eine Schiffspassage. Ich habe zu spät mit dem Packen begonnen und so viel zu tragen, dass ich nur langsam voran komme, als müsste ich durch tiefes Wasser waten. Als ich endlich am Bahnhof bin, ist der Zug bereits abgefahren. Ich muss improvisieren, umbuchen, telefonieren, Pläne ändern, Termine verschieben. Nacht für Nacht schwitze ich vor Anstrengung. Es sind erschöpfende Träume, und morgens bin ich völlig erledigt. Dann schlafe ich, endlich am Ziel.
Lass mal lieber, triumphiert die Depression, rien ne va plus, also bleib liegen! Theoretisch könnte ich aufstehen. Delfine können sich im Wasser aufrichten, einen Ball auf der Schnauze balancieren und vom Balkon in die Hände klatschen. In freier Wildbahn leben sie in losen Gruppen zusammen, strukturiert nach Familienstand, Sympathien und Alter. Manche von ihnen legen weite Strecken zurück. Sie schwimmen von Pol zu Pol, himmelhochjauchzend, zu Tode betrübt, und müssen erst tiefhinabtauchen, um hoch aus dem Wasser zu springen. Acht Prozent aller Delfine entwickeln in Gefangenschaft Suizidgedanken. Werden sie in Isolation gehalten, schrumpft ihr Gehirn um bis zu 42 Prozent. Sie entwickeln Neurosen, man behandelt sie mit Psychopharmaka. Wenn sie dennoch verzweifeln, sind Delfine in der Lage, ihrem Leben ein Ende zu setzen. Nicht alle tun es, nicht alle denken darüber nach. Es ist unbestreitbar: Ich erfülle alle Kriterien, um als Delfin zu gelten.
Auf einem Auge bleibe ich schlaflos. Manchmal versuche ich, nach vorn zu schauen und daran zu denken, dass Delfine sich aneinander erinnern. Selbst nach Jahren der Trennung, besagen Studien der University of Chicago, können Delfine sich wiedererkennen. Davon träume ich mit einer Gehirnhälfte: Auch ich werde mich eines Tages erinnern. Auch ich werde mich wiedererkennen.
Aus Akzente 02/2021; das Heft ist im Dittrich Verlag lieferbar.