VON OLGA RADETZKAJA
Leidenschaft, Luft und Lüge
Wer oder was spielt im Raum der Übersetzung?
Drei Richtungen öffnen sich, wenn ich aus übersetzerischer Sicht über den Begriff des Spielraums nachdenke: eine Übersetzung kann Spielraum bieten, Spielraum haben oder Spielraum sein.
Die erste Richtung hat unmittelbar mit der Praxis des Übersetzens zu tun. Wer fragt, welchen Spielraum eine oder die literarische Übersetzung generell bietet, meint damit in der Regel den Raum, in dem die übersetzerische Kreativität sich entfalten kann. Die Frage zielt, grob gesagt, auf das vertraute Begriffsfeld der belles infidèles oder des Gegensatzpaars Treue und Freiheit. Während erstere eher als Bonmot daherkommen, demzufolge eine Übersetzung, analog zu anderen Objekten der Begierde, nur entweder treu oder schön sein könne (wobei »schön«, das sei hier angemerkt, im Fall der Übersetzung nicht unbedingt »aufregend« bedeutet, oft heißt es sogar eher »brav«), vermessen letztere scheinbar ganz sachlich den Abstand einer Übersetzung zum Originaltext: »treu« heißt nah, »frei« heißt fern. Tendenziell gehen beide Ansätze davon aus, dass »treu« etwas Bestimmtes, womöglich gar zwingend Festgelegtes bedeutet, während »schön« oder »frei« recht Verschiedenes umfassen kann. Die übersetzerische Realität allerdings ist, wie so oft, etwas komplexer.
Dass Originale Vorgaben machen, liegt auf der Hand. Übersetzen bedeutet ja, ein konkretes Werk nachzuschaffen und nicht etwa nur dessen Idee, Wesen, Seele etc. zu beschwören. Die Vorgaben sind sowohl inhaltlicher als auch formaler Art: Das Wesen eines literarischen Texts ist in seiner konkreten sprachlichen Gestalt zu Hause. Diesem Werk, dieser sprachlichen Gestalt gilt meine Verpflichtung als Übersetzerin. Um ihr in einem emphatischen Sinn gerecht zu werden, braucht es eher Leidenschaft als Treue: Was zählt, ist der genaue Blick, die Durchdringung, die Kraft der Interpretation – und die Abwesenheit von Willkür oder Beliebigkeit.
Aus den Vorgaben des Originals ergibt sich jedoch keineswegs ein Zwangscharakter der Gestaltung der Übersetzung. Stringenz ist nicht Strangulation, und der Schritt über die Sprachgrenze ist zwangsläufig ein Schritt in die Freiheit, denn es gibt zwischen zwei Sprachen, wo sie nicht rein terminologisch eingesetzt werden, keine eindeutigen Entsprechungen. In der Literaturübersetzung ist alles Entscheidung, selbst dort, wo der formale Rahmen scheinbar eng gesteckt ist.
Ein Beispiel. Die Dichterin Polina Barskova legt in ihrem Prosaband Lebende Bilder ein dichtes Netz von Wiederholungen aus. Manche durchziehen das ganze Buch, andere nur einen einzelnen Text; alle tragen wesentlich zur Verdichtung des Ganzen bei. Das Adjektiv »mratschnyj«, das in drei der Erzählungen auftaucht, habe ich überall gleich übersetzt (ein »breitschultriger, finsterer Türsteher«, die »finsterste, ernsthafteste aller Göttinnen«); das auffälligere Adjektiv »rychlyj« dagegen verschieden: Eine »füllige, konfuse Frau mit karottenrotem Haar im paillettenglühenden Synthetikkleid«, der »Geruch von bräunlichem, mürbem Eis« über dem Fluss. Man sieht, dass in der Abweichung Bedeutungsnuancen zum Tragen kommen (»rychlyj« beschreibt eine Textur; »mürbe« wäre in Bezug auf eine Person leicht als Beschreibung ihres psychischen Zustands missverstanden worden), während zugleich mit dem Vokal ü und den Konsonanten l/r klangliche Kontinuität gewahrt bleibt. Man sieht weiterhin, dass meine Entscheidungen nicht zufällig waren, sondern klar durch die Form des Originals motiviert – aber auch nicht zwingend, ich hätte es jeweils auch anders (düster, finster, missmutig; mürbes Fleisch …) machen können. In der Übersetzung gibt es kein »anders geht es nicht«, es gibt immer Variation. Dennoch bleibt die Form des Originals die Stange, an der die Übersetzung tanzt. Beide Kräfte, die bindende des Originals und die Eigendynamik der Übersetzung, sind an jeder Stelle wirksam, eben sie bestimmen den Spielraum – einen Raum grenzenloser Freiheit würde schließlich niemand so nennen.
So verstanden, ist Spielraum also ein Merkmal des Übersetzungsprozesses. Die zweite Denkrichtung bezieht sich dagegen auf das Resultat dieses Vorgangs. Kann ein konkreter übersetzter Text Spielraum haben – im Sinn von »Luft haben«, »Spiel haben«? Zu viel Spiel, das nötige Maß an Spiel?
»Ich stahl als Kind Rosen«, heißt es in einer von Luis Ruby übersetzten Erzählung von Clarice Lispector. Der erste Diebstahl einer gerade erst aufblühenden Rose wird in der Geschichte so eingeleitet: »Mit offenem Mund und voller Bewunderung betrachtete ich diese hochmütige Rose, noch nicht einmal ganz Frau.«[1] Dieser Satz hat reichlich Luft, weil er das, was sie verdrängen würde – die Zuordnung des Noch-nicht-ganz-Frau-Seins zur Rose oder ihrer Diebin – gezielt weglässt.
Nebel hat die Täler (…) gefüllt, Regen spült Lücken hinein und gräbt Schluchten unter dem wachsenden Himmel. Wasser trägt Schaum. In kurzen Wolkenaufrissen leuchtet Sonne.«[2] Christiane Körners Übersetzung von Pawel Salzmans Welpen entfaltet zu Beginn des Romans eine Landschaft fast ohne Artikel: Der Nebel, der Regen, die Sonne sind nichts Bekanntes, sie werden wie zum ersten Mal gesehen – und auch hier strömt Luft in den Text ein, das Bild gerät in Schwingung.
Man sieht: Wo ein Text Luft hat, kann er atmen. Der so verstandene sprachliche Spielraum, der nicht Ergebnis eines Ausweichens vor Entscheidungen ist, sondern eines bewussten In-der-Schwebe-Haltens, einer entschiedenen Herstellung von Un-Vertrautheit, ist vielleicht einer der Schlüssel zu lebendigen Übersetzungen – weil er, wie es im Grimm’schen Wörterbuch zu »Spielraum« heißt, Bewegung ermöglicht: im Kopf der Leserin.
Bewegung gehört laut Johan Huizinga zu den ältesten Grundbedeutungen von »Spiel« in den indoeuropäischen Sprachen.[3] Daran knüpft vor allem die musikalische Bedeutung des Wortes (Geige spielen, eine Symphonie spielen) an. In der Reflexion des Übersetzens taucht der Vergleich mit der Arbeit von Musikern häufiger auf, er liegt in mehrerlei Hinsicht nahe – das Spannungsverhältnis zwischen festgelegtem Notentext (»Original«) und persönlicher Interpretation (»Übersetzung«), überhaupt das Element der bewussten, informierten Gestaltung sind nur zwei der Berührungspunkte.[4]
Auch andere Merkmale des Spiels, die Huizinga in seiner Studie Homo ludens nennt, lassen sich auf das Übersetzen von Literatur übertragen: Spiel ist »freies Handeln«, es gehorcht keiner äußeren Notwendigkeit und verbindet sich mit Begriffen wie »Müssen, Aufgabe und Pflicht« (ich übersetze: Abgabetermin, Auftrag, Vertrag) erst dadurch, dass es »Kulturfunktion wird«; es dient Bedürfnissen »des Ausdrucks und des Zusammenlebens«; es impliziert Ordnung, Regeln und gewinnt daraus seinen ästhetischen Charakter. Ein wichtiges Element des Spiels ist die Spannung, die Ungewissheit, ob etwas »glückt«. Damit verbunden ist die sportliche Herausforderung, auch der Aspekt der Virtuosität. Das Material des Originals bietet Reiz und Reibung, die Auseinandersetzung damit kann für die Übersetzerin durchaus Züge eines (Wett)Kampfs haben, der ihre Fähigkeiten – Huizinga nennt neben geistigen Kräften »Ausdauer«, »Findigkeit« und »Mut« – auf die Probe stellt.[5] Bin ich technisch auf der Höhe, hat meine Sprache die nötige Spannkraft, gelingt es mir, mein Verständnis des Originals hörbar, erlebbar zu machen?
Das Übersetzen als Tätigkeit, als Beruf ist so gesehen tatsächlich ein »Raum, wo man spielt«, um noch einmal die Grimm’sche Definition von »Spielraum« zu zitieren – nicht zuletzt ein »Raum für dramatische Spiele«, eine Bühne, denn spielen heißt auch »so tun als ob, vortäuschen, markieren«, manchmal gar lügen. Übersetzen wiederum heißt, den Text eines anderen mit der eigenen Sprache spielen, ihn »aufführen«. Die Illusion von Identität ist eines der Wesensmerkmale der Übersetzung: Hier herrscht nicht biographische Authentizität, sondern die Vieldeutigkeit des Theaters. In eben diesem existentiellen Sinn ist das Übersetzen tatsächlich Spielraum: Wir, die Übersetzer, spielen darin wechselnde Rollen, die aus Sprache bestehen.
[1] Clarice Lispector: Hundert Jahre Ablass. In dies.: Aber es wird regnen. Aus dem brasilianischen Portugiesisch von Luis Ruby, München 2020.
[2] Pawel Salzman: Die Welpen. Aus dem Russischen von Christiane Körner, Berlin 2016.
[3] Johan Huizinga: Homo Ludens. Vom Ursprung der Kultur im Spiel. Aus dem Niederländischen von H. Nachod, Reinbek 1987, S. 47 f.
[4] Von verschiedenen Seiten beleuchtet wird die Analogie in: Gabriele Leupold, Katharina Raabe (Hg.): In Ketten tanzen. Übersetzen als interpretierende Kunst, Göttingen 2008; siehe dort insbesondere den Aufsatz von Gabriele Leupold: »Ketten und Spielraum. Entscheidungen beim Übersetzen«, S. 80–98.
[5] Huizinga, S. 16–20.
Aus Akzente 02/2022; das Heft ist im Dittrich Verlag lieferbar.