Hintergrundgedanken aus aktuellem Anlass zum Gegenwartsroman Mischungsverhältnisse. Von Philipp Stoll
Ereignisse wie der Messeranschlag in Solingen mit vier Toten und zahlreichen Verletzten oder etwa der Amoklauf, der im Oktober 2023 im US-Bundesstaat Maine 18 Tote zur Folge hatte, verursachen Trauer, Schmerz, Verzweiflung, Wut. Und Ratlosigkeit. Warum passieren diese schrecklichen Dinge? Was können wir tun, damit solche menschengemachten Katastrophen sich nicht wiederholen? Den Amerikanern kann man aus der Ferne zurufen: »Werdet endlich vernünftig und ändert Eure Waffengesetze!«. Dabei dürfen wir uns aber nicht der Illusion hingeben, dass mit entsprechenden Maßnahmen brutale, tödliche Anschläge vollständig verhindert werden können. In Europa gibt es wesentlich restriktivere Waffengesetze und trotzdem haben wir in den letzten Jahren viele, teils verheerende Attacken auf den alltäglichen Frieden erlebt. Natürlich kann man auch bei uns die Waffengesetze verschärfen; aber ein potenzieller Täter wird immer eine Methode finden, zu töten, und sei es ein Küchenmesser.
Zunehmend setzt sich die Erkenntnis durch, dass Prävention eine andere Haltung den Tätern gegenüber voraussetzt. Daniel Barenboim hat kürzlich anlässlich des Angriffs der Hamas auf Israel in einem Zeitungskommentar geschrieben, dass wir in dem Moment, in dem unsere Emotionen im Angesicht der Gewalt dazu führen, dass wir dem anderen seine Menschlichkeit absprechen, verloren seien. Das gilt nicht nur für kriegerische und vergleichbare Konflikte, sondern auch für den Umgang einer Gesellschaft mit ihren Terroristen, Attentätern, Amokläufern. Die ehemalige CIA-Agentin Amaryllis Fox sagte in einem Interview im Jahr 2019: »wir müssen verstehen, warum diese Leute so denken, was sie bewegt, wovor sie Angst haben, warum sie unfassbar böse Dinge planen. Wir müssen versuchen zu kapieren, warum sie glauben, dass sie auf der Seite der Guten kämpfen und ihr Land oder ihre Familie beschützen wollen. […] Es hilft auf jeden Fall nicht, die andere Seite einfach nur zu dämonisieren […] Das Einzige, was gegen Terrorismus hilft, ist Verständnis […] Es gibt immer einen Grund für Gewalt und Verbrechen […] Häufig geht es um sehr persönliche und menschliche Angelegenheiten. Etwa, dass sich jemand in seinem Stolz verletzt fühlt oder glaubt, erniedrigt worden zu sein.«
Heribert Prantl hat das im März des Jahres 2022 aus damals aktuellem Anlass, der leider nach wie vor besteht, auf die prägnante Formel gebracht, Ungeheuerliches mache den Täter nicht zum Ungeheuer.
Eine solche empathische Haltung ist in der Politik nicht sonderlich beliebt. Wer sich zu ihr in der Öffentlichkeit bekennt, muss damit rechnen, dass sie oder er damit viele Wähler vergrault. Dennoch braucht das Problem eine veränderte Einstellung und eine andere Herangehensweise. Dabei kann es keine Entschuldigung sein, dass viele der »einsamen Wölfe« im Nachhinein betrachtet psychisch auffällig waren oder sogar als krank im Sinne der internationalen medizinischen Klassifikation (ICD 10) gelten mussten. Denn ein genaueres Hinsehen hätte auch diesen Umstand zu Tage gebracht und der Gesellschaft die Möglichkeit verschafft, einzugreifen und im Ergebnis ein grauenvolles Verbrechen zu verhindern.
Man kann zwar die Notwendigkeit einer empathischen Haltung, die für die Einzelne und den Einzelnen mit Anstrengung verbunden ist, mit Verweis darauf bestreiten, es handele sich bei einsamen Wölfen um Überzeugungstäter, die weder argumentativ noch therapeutisch erreichbar seien. Denn zum einen leben wir in einer Welt, in der »Wahn und Ideologie, Verschwörungsdenken und Rassenhass kaum noch zu unterscheiden sind« (Backes, Bartsch u.a., Der Spiegel 22.02.2020), zum anderen geht es nicht um die Heilung eines einzelnen Menschen, sondern um Prävention, auch und vor allem durch Rückführung vernachlässigter Bevölkerungsgruppen in die Mitte der Gesellschaft. Wir müssen verhindern, dass Menschen an den Rand treiben, wo sie meinen, nichts mehr verlieren zu können, und in diesem Glauben völlig unsinnige Gewalttaten planen.
Eine solche lösungsorientierte Haltung bedeutet mitnichten, grauenvolle und schwer kriminelle Handlungen zu entschuldigen oder zu verharmlosen. Es trifft nicht zu, dass die Befassung mit der Psyche des Täters dessen terroristische Tat bagatellisiert. Aber sie macht die Tat verständlich und nachvollziehbar, weil sie ihre Hintergründe aufzeigt. Daneben bleibt die Suche nach allgemeinen soziologischen oder sonstigen Ursachen für »Wahnsinnstaten« nicht nur möglich, sondern auch notwendig.
Im Übrigen fördert ein allgemeiner Blick hinter die Kulissen der Täterpersönlichkeiten nicht nur Pathologisches, Außergewöhnliches oder Überraschendes zutage, sondern wohl in den allermeisten Fällen eine zwar alltägliche, allerdings perspektivlose und damit aus der alleine maßgeblichen Sicht der Betroffenen verzweifelte persönliche Situation. Diese stellt sich nicht als Ergebnis wohlgeplanter Entscheidungen dar, sondern als Produkt von Fehleinschätzungen, individuellen Unzulänglichkeiten und Zufall. Mit Ausnahme vielleicht von Rädelsführern größerer Gruppen sind die Täter keine im soziologischen Sinne erfolgreichen Zeitgenossen. Sie haben in der Regel weder eine gute Bildung genossen, noch üben sie einen erfüllenden und anerkannten Beruf aus. Auf einen großen Freundeskreis können sie meist auch nicht zurückgreifen. Ihre Biografien vereinen eine Vielzahl von gewöhnlichen und ungewöhnlichen Umständen, die wie bei jedem Menschen in einem individuellen Mischungsverhältnis stehen.
Vor diesem Hintergrund erzählt mein Roman Mischungsverhältnisse die Geschichte des Wolf Niedring. Wie bei einem Puzzle werden vor den Augen des Lesers die Teile zusammengefügt, die diesen Menschen ausmachen, seine trügerische Kindheit, das fragwürdige Abhandenkommen des Vaters, ein tragikomisches Verhältnis zu Frauen, Hilfsbereitschaft gepaart mit Hilflosigkeit. Ein Leben zwischen Verschwörungsgeschichten und Realität. Zwischen Liebe und Wut. Welche Bedeutung und welches Gewicht diesen Umständen letztlich zukommen und warum der Mann von seiner Umgebung unbemerkt abgleitet, müssen Leserin und Leser selbst entscheiden. Anzumerken ist noch, dass »Mischungsverhältnisse« im Leben des Protagonisten noch eine gänzlich andere Bedeutung haben werden. Mehr soll aber hier nicht verraten werden.